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Seelensturm

Seelensturm

Titel: Seelensturm
Autoren: Any Cherubim
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farbliche Aura erkennen. Hatte diese verdammte Illustris-Sache auch etwas Gutes? - Für mich nicht.
     
    Wie viel Zeit mochte vergangen sein? Als ich aus meiner dunklen Trauer das erste Mal auftauchte, saß jemand neben mir und hatte mir eine Decke übergelegt. Luca. Ich sah ihn nur kurz an, sagte aber kein Wort. Auch er sagte nichts und starrte ins Leere. Ich war mir noch nicht einmal sicher, ob er verstand oder ob er nachvollziehen konnte, was ich gerade durchmachte. Wir schwiegen beide und ließen uns unsere Gedanken.
    »Jade! Jade!«, flüsterte jemand. Ich schlief nicht. Meine Augen waren zwar geschlossen, doch ich fand nicht in den Schlaf. Es war mitten in der Nacht. Ein paar Stunden, nachdem ich Tom, Onkel Finley und meine Schwester verloren hatte.
    »Jade, ich muss etwas mit dir besprechen«, sagte Mr. Chang und drückte mir eine Tasse mit heißem Tee in die Hand. Luca saß immer noch neben mir. Vorsichtig nahm ich die Tasse entgegen und roch daran. Es war die gleiche Sorte wie damals in seinem Haus. Er gab mir einen Moment.
    »Jade, können wir über deinen Onkel sprechen?«
    Am liebsten hätte ich alle Gedanken über meine Familie verbannt. Es schmerzte so sehr.
    »Wärst du damit einverstanden, wenn wir ihn … dem Meer übergeben?«, fragte er sanft.
    Ich war nicht sicher, ob ich ihn richtig verstanden hatte, oder ob ich überhaupt in der Lage war, darüber nachzudenken, geschweige denn eine solche Entscheidung zu fällen. Ich war immer davon ausgegangen, dass wenn es irgendwann einmal so weit sein würde, Onkel Finley ein ganz normales Begräbnis bekäme.
    »Das Problem ist, eine Menge Leute glauben, dass eure ganze Familie bei der Explosion umgekommen ist. Wenn wir landen und ihn bei uns haben, könnte es schwierig werden, dies zu erklären. Wir sind jetzt genau über dem Nordatlantik. Der Zeitpunkt wäre günstig. Die Sonne geht bald auf.«
    Schlagartig wurde mir das ganze Ausmaß klar. Unser Zuhause war explodiert und mit ihm auch die Menschen und all die Dinge, die einmal unser Leben gewesen waren. Ich war eine Illustris, wurde von den Taluris und deren Teufel gehasst. Man würde Fragen stellen, nachforschen und versuchen, mich aufzuspüren. Nur die Taluris wussten, dass wir es geschafft hatten zu fliehen, doch die Menschen in Bayville wussten davon nichts. Sie glaubten, wir wären alle tot. Ja, wir mussten Onkel Finley dem Meer übergeben, allein um sicherzustellen, dass wir nicht auffielen.
    Nickend gab ich mein Einverständnis und schloss meine Augen. Es tat mir für uns alle so leid.
     
    Kniend saß ich vor meinem Onkel. Meine Hand lag ruhig auf seinem Körper und ich hielt meine Augen geschlossen. Tränen flossen keine, auch wenn mir zum Schreien zumute war. Ich wollte in diesem Augenblick gedanklich allein bei Onkel Finley sein. Mr. Chang und Luca standen hinter mir und warteten geduldig, bis ich mich von ihm trennte.
    Es fiel mir so schwer. Bilder aus glücklichen Kindheitstagen flackerten vor meinen Augen auf. Ich hörte seine Stimme und sein tiefes Lachen. Onkel Finley war stets gut zu uns gewesen, auch wenn er immer streng unsere Aktivitäten kontrolliert hatte. Doch ich erkannte auch die stille Forderung, die er stets von mir verlangt hatte. Ich sollte Amy beschützen, sogar mit meinem Leben. Kurz nachdem er mir das große Geheimnis anvertraut hatte, fragte er mich sogar direkt, ob ich bereit wäre, für Amy zu sterben. Er liebte mich bestimmt, doch seine letzten Worte beinhalteten so viel Macht über mich, dass ich das Gefühl nicht loswurde, auf der ganzen Linie versagt zu haben. Seine Beweggründe und seine Absichten hatten Amy und ich nie verstanden, doch jetzt fragte ich mich, ob Onkel Finleys Entscheidungen richtig gewesen waren.
    Je länger ich den Zeitpunkt hinauszögerte, desto schwieriger wurde es, weil sich mir immer noch mehr Fragen und Vorwürfe aufdrängten. Ich zwang mich, von dem leblosen Körper abzurücken und gab ihn damit frei.
    »Geh bitte nach hinten, Jade«, sagte Luca, während Mr. Chang zur Luke ging, um sie zu öffnen, sobald ich auf meinem Platz saß. Ich warf einen letzten Blick auf ihn, dann schloss ich die Tür hinter mir. Tränen strömten über mein Gesicht.
    Dann wurde das Rauschen sehr laut. Die Luke musste offen sein. Durch das kleine Fenster hoffte ich, den Leichnam meines Onkels auf seiner letzten Reise noch einmal sehen zu können. Sekunden später folgte der leblose Körper und verschwand so schnell, dass ich nur kurz einen dunklen Schatten erkennen
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