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Seelenkuss

Seelenkuss

Titel: Seelenkuss
Autoren: Lynn Raven
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und ihn jetzt so sehen zu müssen, hatte ihr wehgetan. Dass ein Verband aus weichem Leinen um seinen Kopf geschlungen war, da er sich obendrein eine Wunde an der Stirn zugezogen hatte, als er bewusstlos zusammengebrochen und gegen eine Mauerkante geschlagen war, ließ ihn nur noch verletzlicher erscheinen. Sie machte sich immer noch Sorgen um ihn, obwohl der Heiler ihr mehrfach versichert hatte, dass Hauptmann Réfen sich nach ein paar Tagen strengster Bettruhe und anschließend mindestens einem Viertelmond Schonung wieder vollständig erholen würde. Auch wenn einige Adelige der Meinung waren, der Hauptmann der Garde sei kein angemessener Umgang für eine Prinzessin der Korun, machte sie keinen Hehl daraus, dass sie Réfen gernhatte. Immerhin waren sie aufgewachsen wie Bruder und Schwester.
    Der Heiler war schließlich mit der Nachricht zurückgekehrt, dass Nian an einer seltsamen Schwäche litt, die auch schon zwei von Selorans Pagen befallen hatte, für die er aber keinen Grund finden konnte. Entsprechend vermochte er nichts zu tun, außer den Betroffenen Ruhe zu verordnen. Und dann hatte der Kerl doch tatsächlich die Unverschämtheit besessen, sie aus Réfens Gemach zu werfen, da ihre Anwesenheit im Zimmer eines kranken und obendrein halb nackt im Bett liegenden Mannes seiner Meinung nach äußerst ungehörig sei. Halb nackt! Pah! Réf trug ein Hemd und war bis zum Kinn zugedeckt– und außerdem hatte sie ihn schon mehr als einmal mit bloßer Brust und nur in seiner Hose gesehen. Wäre da nicht Nians unerklärliche Schwäche gewesen, hätte sie sich auf eine Auseinandersetzung mit dem Heiler eingelassen. So war sie unter Protest gegangen.
    Während sie an den fleckigen und zerkratzten Arbeitstisch unter einem der Fenster trat, schlüpften ihre Finger, ohne dass sie es bemerkte, unter ihre weiten Gewandärmel und rieben gedankenverloren über die hauchdünne Oberfläche ihrer Unterarmflossen. Ebenso wie die drei zu beiden Seiten des Halses schräg nach hinten aufwärtslaufenden Kiemennarben, die bei den Frauen ihres Volkes weniger stark ausgeprägt waren als bei den Männern, waren sie ein Erbe ihrer Vorfahren, die vor unzähligen Jahresläufen im Meer gelebt hatten. Sie reichten vom Handgelenk bis zum Ellbogen hin, liefen schräg nach obenhin aus und waren mit silbrigregenbogenfarben glänzenden Schuppen bedeckt, die sich ein kleines Stück auf die Haut zu beiden Seiten des Flossenansatzes fortsetzten. Als ihr bewusst wurde, wohin ihre Finger sich wieder verirrt hatten, zog sie die Hände hastig aus den Ärmeln. Die meisten adeligen Korun verbargen ihre Unterarmflossen unter eleganten Stulpen aus zartem Stoff, weil es als liederlich galt, wenn ein Mann die Unterarmflossen einer Frau sah– oder am Ende gar berührte. Darejan hatte diese Enge an den Unterarmen nie ertragen und sich die Stulpen heruntergezogen, sobald ihre Kinderfrau nicht hingesehen hatte. Was eigentlich ein filigranes, zartes Gewebe sein sollte, war deshalb bei ihr an den Rändern ausgefranst und mit schillernden Schuppen bedeckt, die sich an unzähligen kleinen Narben gebildet hatten, sodass ihre Unterarmflossen beinah so prächtig schimmerten wie die eines Mannes. Zugleich waren sie umso empfindsamer geworden, weshalb sie die eleganten Stulpen noch weniger ertrug. Wenn man nach den Maßstäben ihres Volkes ging, war das ein schwerer Makel für eine junge Frau– ein Makel, den auch der Umstand nicht aufwiegen konnte, dass sie die Schwester der Königin war. Mit einem Seufzen verdrängte sie die traurigen Gedanken und ließ ihren Blick über die ordentlich aufgereihten Tiegel, Töpfchen, Phiolen und kleinen Fläschchen vor sich schweifen. Auf dem Boden neben dem Tisch stand sogar eine hohe, mit Wein gefüllte Amphore, um eine Rezeptur auch mit etwas Stärkerem als Wasser ansetzen zu können. Erstaunlich, wie beinah übertrieben sorgfältig Seloran seit einiger Zeit das Studierzimmer, das gleichzeitig als Laboratorium diente, aufgeräumt hielt. Früher hatte es regelmäßig so ausgesehen, als sei ein Windgeist durch die Regale und über die Tische gefegt, wenn ihre Schwester hier einige Stunden verbracht hatte. Darejan strich sich eine Strähne aus der Stirn, drehte die lange schwarzsilberne Pracht zu einem Rosschweif zusammen, den sie im Nacken zu einem Knoten schlang, trat zu dem Schrank, hinter dessen geschliffenen Glastüren sich die kostbaren Folianten befanden, aus denen sie selbst unter Meister Fanerens Anleitung ihre ersten Elixiere
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