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Seelenglanz

Seelenglanz

Titel: Seelenglanz
Autoren: Brigitte Melzer
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ich Akashiel, der neben mich an die Dachkante getreten war und Straße und Gehweg absuchte.
    »Nein. Dabei müsste er längst hier sein.«
    Noch fünfzehn Sekunden.
    Unter uns knarrte eine Tür. Einen Wimpernschlag später trat ein junger Bursche auf den Bürgersteig, auf dessen Jacke der Schriftzug einer Putzfirma prangte. Das war er! Er ließ einen Schlüsselbund in seine Hosentasche gleiten und hielt auf die Straße zu. Von links näherte sich der Bus. Ein lautes Scheppern ließ den Jungen herumfahren und einen Blick zu den Mülltonnen werfen. »Verfluchte Katzen!«, schimpfte er, machte zwei Schritte rückwärts, ohne die Augen von den Mülltonnen zu nehmen, und trat auf die Straße.
    Drei Sekunden.
    »Kyriel!«, drängte Akashiel.
    »Schon unterwegs.« Mit einem einzigen Gedanken versetzteich mich hinter dem Burschen auf die Straße. Für meinen eigentlichen Plan, ihm ein schlechtes Gefühl einzuflößen, das ihn vom Betreten der Straße abhalten sollte, war es zu spät. Der Bus raste heran, die Front vor mir wurde größer und größer. Hinter der Windschutzscheibe sah ich das entsetzte Gesicht des Fahrers, der verzweifelt am Lenkrad riss und dem Quietschen nach zu urteilen mit beiden Beinen das Bremspedal bis zum Boden durchdrückte.
    Der Junge, der mit dem Rücken zu mir stand, hatte die Gefahr mittlerweile bemerkt. Den Kopf zur Seite gedreht starrte er dem heranrasenden Bus aus weit aufgerissenen Augen entgegen. Gelähmt vor Entsetzen – wie ein Reh im Scheinwerferlicht.
    Noch eine Sekunde bis zum Aufprall.
    Ich verpasste dem Jungen einen heftigen Stoß, der ihn von der Straße gegen einen der Müllcontainer katapultierte. Dann war der Bus da, ohne dass ich eine Chance gehabt hätte, mich noch rechtzeitig zu versetzen.
    »Scheiße!«
    Er traf mich frontal.
    Siebzehn Tonnen Stahl prallten gegen meine Brust und rissen mir den Atem aus den Lungen. Ich wurde zu Boden geschmettert. In einem Gewitter aus Stahl und Benzingestank raste das Ungetüm über mich hinweg. Ich war unsterblich, nur durch die Hand von meinesgleichen zu töten, dennoch bekam ich in diesem Augenblick eine Ahnung, wie sich der Junge in den letzten Sekunden seines Lebens gefühlt hätte, zermalmt von einem zweiachsigen Monster. Mich brachte es immerhin nicht um.
    Höllisch weh tat es trotzdem.
    Im Gegensatz zu mir hatten weder der Fahrer noch die beiden Fahrgäste den Zusammenstoß mit meiner unsichtbaren Wenigkeit bemerkt. Die Aufmerksamkeit der drei warauf die Straße gerichtet, dorthin, wo einen Herzschlag zuvor noch ein dem Tode geweihter Junge gestanden hatte.
    Über mir kam der Bus mit quietschenden Reifen zum Stillstand. Ich wollte nur noch fort von hier, doch die Schmerzen machten es mir unmöglich, mich zu konzentrieren. Es fühlte sich an, als hätte der Aufprall mir jeden einzelnen Knochen gebrochen. Mir taten sogar Stellen weh, von denen ich nicht einmal wusste, dass es sie gab. Als ich die Hand hob und mein Gesicht berührte, ertastete ich etwas Warmes, Feuchtes. Blut. Meine Fresse! Ich musste aussehen wie ein Hacksteak!
    Es lohnte sich jedoch nicht, eine weitere Bestandsaufnahme meiner Verletzungen zu machen, denn meine Selbstheilungskräfte hatten bereits eingesetzt. In Sekundenschnelle fügten sich Knochen knirschend – und ausgesprochen schmerzhaft – wieder zusammen. Risse und offene Wunden in meinem Fleisch schlossen sich rasend schnell. Nach ein paar Atemzügen war jede Ähnlichkeit mit Gehacktem Geschichte, und kurz darauf war ich wieder vollkommen hergestellt. Nur das Blut in meinem Gesicht würde noch an mein Zusammentreffen mit dem Bus erinnern.
    Auch wenn der Schmerz mir noch unangenehm frisch im Gedächtnis haftete, war ich jetzt wieder in der Lage, mich zu bewegen. Höchste Zeit, zu verschwinden.
    Ich konzentrierte mich auf den Bürgersteig neben der Straße, um mich dorthin zu versetzen.
    Nichts geschah.
    Beim Anblick des Bodenblechs über mir entfuhr mir ein Fluch. Metall behinderte meine Fähigkeiten – das war auch der Grund, warum ich mich nicht hatte dematerialisieren und durch den Bus hindurchgleiten können. Meine Selbstheilungskräfte hatten einen Großteil meiner Energie aufgezehrt, sodass ich mich einfach fester konzentrieren musste.
    Ich schloss die Augen und versuchte es noch einmal, schenkte meinem Ziel mehr als nur einen beiläufigen Gedanken und ließ es als Bild vor meinem inneren Auge entstehen.
    Und schon stand ich auf dem Bürgersteig.
    Erleichtert, dass ich mir nicht die Blöße hatte geben
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