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Seelenflüstern (German Edition)

Seelenflüstern (German Edition)

Titel: Seelenflüstern (German Edition)
Autoren: Mary Lindsey
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gab. Wenn er kein Hirngespinst war, hieß das, er war noch durchgeknallter als ich.
    Höchste Zeit, zum Friedhofstor zu flüchten. Doch ein Teil von mir wollte ihn noch einmal berühren. Die Wärme spüren, die dann durch mich hindurchfloss. Ich drehte mich weg und tat, als würde ich die Grabsteine betrachten. Dabei musste ich ständig daran denken, was er über meinen Tod gesagt hatte – etwas über einen Sturm, bei dem Tausende Menschen umgekommen waren. Ich ging an der Reihe von Gräbern entlang, las die Jahreszahlen auf den alten, übel zugerichteten Grabsteinen. Der Typ folgte mir wie ein Hündchen. »Suchst du etwas Bestimmtes? Eine bestimmte Person vielleicht?«
    Meine Hirnwindungen versuchten mit aller Kraft, diesen Irrsinn zu verstehen. Wenn ich einen Beweis dafürfand, dass der Sturm eine Erfindung war, dann bedeutete das doch wohl auch, dass vieles andere ebenfalls nicht sein konnte. »Du hast etwas von einem Sturm gesagt. Wann soll das noch mal gewesen sein? Im Jahr 1900?« Ich warf einen Blick über die Schulter. Alden war kaum eine Armlänge von mir entfernt stehen geblieben.
    »Am 8. September.« Er kam noch näher.
    Ich hielt die Gitarre so, dass sie zwischen uns war. »Und du sagtest, es hätte viele Tote gegeben.«
    »Allein auf der Insel waren es über sechstausend. Du warst auch darunter, Rose.«
    Ich zeigte auf den marmornen Engel. »Und das da soll mein Grab sein?«
    Er nickte.
    »Und wieso steht da als Todesjahr nicht 1900 sondern 1875?«
    »Der Grabstein ist aus dem Zyklus davor.« Er steckte die Hände in die Taschen und betrachtete den Engel. »Nach dem Sturm wurde deine Leiche nie gefunden.«
    Jetet hatte ich ihn. Ich stellte die Gitarre ab. »Ah ja. Richtig. Aber wenn so viele andere Leute umkamen – nämlich Tausende – warum gibt es dann keinen einzigen Grabstein mit diesem Datum? Ich sehe nirgends die Jahreszahl 1900.«
    »Steine, auf denen sie steht, gibt es auch kaum. Es waren einfach zu viele Tote zu begraben. Die Seuchengefahr wurde zu groß«, antwortete er. »Leichen überall. Viele hat man auf Schiffe verladen, mit Steinen beschwert und draußen in der Bucht versenkt. Das funktionierte allerdings nicht besonders gut; sie wurden ziemlich schnell wieder angespült. Schließlich begruben wir fast alle.«
    »Wir?«
    »Ich war einer der Überlebenden und habe die harteZeit nach dem Sturm irgendwie überstanden. Zum Glück erinnere ich mich nicht mehr an alle Einzelheiten. Die habe ich später nachgelesen, um meine Gedächtnislücken zu füllen. Aber den Geruch vergesse ich nie. Den ekelhaften Gestank des Todes … und auch nicht, wie ich dich gesucht habe, Rose. Aber das war in einem anderen Leben. Das liegt nun hinter mir. Und jetzt bist du da.« Er berührte meine Wange mit den Fingerspitzen, und mein Körper reagierte heftiger als je zuvor. So etwas passierte nicht einmal, wenn Zak und ich uns küssten. Explosionsartig bekam ich an den Armen eine Gänsehaut; mein Herz schlug so laut, dass ich es hörte.
    »Pass auf. Wer immer du bist …«
    »Alden.«
    »Okay. Alden.« Ich hob die Gitarre auf. »Ich heiße nicht Rose. Und ganz egal, für wen oder was du mich hältst – du irrst dich. Und jetzt lass mich bitte in Ruhe.«
    Damit wandte ich mich ab und marschierte weiter Richtung Ausgang.
    Er stellte sich mir mit ausgebreiteten Armen in den Weg.
    »Warte. Wie willst du nach Hause kommen? Bitte lass mich dich fahren. Setz dich jetzt nicht mit diesem Kerl ins Auto.«
    »Weißt du was? Du machst mir sogar noch mehr Angst als er. Das Risiko, mit ihm zu fahren, gehe ich ein. Und jetzt verkrümelst du dich.«
    »Hilf mir!« Eine Welle der Angst schlug über mir zusammen. Da war es wieder, das Gruselkind.
    Alden schloss lächelnd die Augen.
    »Hast du das gehört?«, flüsterte ich und stellte die Gitarre wieder ab.
    Er ließ die Augen zu. »Nein. Hören kann ich die gestrandeten Seelen nicht. Aber ich fühle sie durch dich.«
    »Die gestrandeten Seelen? … Du meinst Gespenster ?«
    Alden nickte und öffnete die Augen. Sein Lächeln blieb.
    »O Gott. Willst du etwa behaupten, mit mir redet jemand, der schon längst gestorben ist? Mach, dass das aufhört.« Ich schob mich näher an ihn heran und hielt mir die Ohren zu. »Es soll mich in Ruhe lassen.«
    »Wenn du so viel Angst hast, kann ich mich nicht konzentrieren. Pssst.« Er griff nach meiner Hand und sofort fühlte ich mich besser. Diesmal wirkte seine Berührung, als würde ein Betäubungsmittel in meine Adern fließen. Ein Teil
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