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Seelenfänger

Seelenfänger

Titel: Seelenfänger
Autoren: Andreas Brandhorst
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Grund?«
    »Er hat ihn erpresst.« Zacharias sah noch andere Szenen, komprimiert auf ein oder zwei Sekunden, nackte Gestalten in anderen Zimmern, einige von ihnen schäbig, die verschwitzten Gesichter von Männern, die vierzig oder fünfzig Jahre älter waren als Randolph. »Dulberg hat ihn gezwungen, zum Lustknaben seiner Kumpel zu werden. Ein feiner Onkel ist das, wirklich prächtig. Ich schätze, Mrs. Quint wird ein Wörtchen mit ihm reden wollen, wenn sie hiervon erfährt.«
    »Zach … Ich empfange erneut ein Signal. Absolute Priorität. Wir müssen zurück.«
    »Nach der ganzen Mühe?«, erwiderte Zacharias. »Wir haben es fast geschafft. Wir wissen, was mit Randy los ist. Jetzt geht es darum, das Trauma zu eliminieren und die Grundlage für eine erfolgreiche Therapie zu schaffen. Ich schlage vor, wir erledigen den Onkel. Das sollte Randys Unterbewusstsein zeigen, dass er ihm nicht völlig hilflos ausgeliefert ist.«
    »Absolute Priorität«, wiederholte Florence. Sie stand ne ben der Tür, ihr schwarzes Haar halb mit den dortigen Schatten verschmolzen, ihr Gesicht ein helles Oval im Halbdunkel. »Die Zentrale schickt jemanden, der uns ersetzt.«
    »Jemanden, der die Früchte unserer Arbeit erntet?« Enttäuschung machte sich in Zacharias breit, und sie galt nicht nur der Mission. Er hatte gehofft, noch etwas Zeit mit Florence zu haben. Und ganz abgesehen davon: Die Rückkehr bedeutete für ihn, wieder Fesseln zu tragen.
    »Es scheint sehr wichtig zu sein, Zach.« Florence drehte den Schlüssel im Schloss, und als sie die Tür öffnete, trat ein schlanker, grauhaariger Mann ein, mit einer Nase wie ein Klumpen im Gesicht. Conrad, einer der anderen Traveller, ein »Handwerker«, wie man jene Gruppe nannte. Sie räumten auf, erledigten den Rest, beseitigten manchmal die Trümmer, wie auch immer man es nennen mochte.
    »Rasmussen erwartet euch«, sagte Conrad und beobachtete die Szene.
    »Es ist der Onkel.« Zacharias deutete auf den Mann mit der heruntergelassenen Hose. »Verpass ihm eine Abreibung. Zeig dem Jungen, dass seine Situation nicht völlig hoffnungslos ist.«
    »Ich bin auf dem Laufenden«, sagte Conrad würdevoll.
    Zacharias wich langsam zur Tür zurück, die nicht mehr auf den Flur führte, sondern in einen vertrauten Raum. Einen Schritt davor zögerte er.
    »Komm, Zach«, drängte Florence.
    »Weißt du was, Flo?« Er ließ den Blick durchs halbdunkle Zimmer streichen, nahm sich einige Sekunden Zeit und emp fing weitere Szenen aus den Erinnerungen von Randolph Amadeus Quint. »Vielleicht hast du recht.«
    »Was?« Florence hatte ihr Interface-Äquivalent vom Ohr gezogen, hielt es in der Hand und stand in der Tür, halb auf dieser Seite und halb auf der anderen.
    »Es … fühlt sich nicht ganz richtig an«, sagte Zacharias. »Schwul zu sein und deshalb vom eigenen Onkel erpresst zu werden … Reicht das als Grund für drei Selbstmordversuche?«
    »Wenn man sehr sensibel ist …«, Conrad zuckte die Schultern. »Ich kümmere mich jetzt darum. Vielleicht finde ich noch etwas anderes.«
    Zacharias nickte, atmete tief durch und ging zusammen mit Florence durch die Tür, die sie zur Foundation zurückbrachte.
    Unter dem Bett waren die Schatten dichter und dunkler, und sie gerieten in Bewegung, als sich die Tür schloss und das einzige Licht im Zimmer wieder nur von der halb zugedeckten Lampe kam. Zwei Punkte glühten in der Finsternis, wie Sterne am Nachthimmel, oder wie Augen, die kurz den Schein des Mondes reflektierten. Dünne schwarze Linien wuchsen unter dem Bett hervor, kletterten wie Ranken an den Pfosten hoch, erreichten die beiden Jungen – der eine am Bettrand, der andere unterm Laken –, krochen an ihnen empor, ohne dass die Erstarrten etwas bemerkten, und legten sich ihnen wie Schlingen um den Hals. Zwei weitere Linien schlängelten sich an den Innenseiten von Dulbergs Beinen hoch und wickelten sich um sein steil nach oben zeigendes Glied, verschwanden dann unterm Hemd, kamen am Kragen wieder zum Vorschein und bildeten auch an seinem Hals eine Schlinge. Sie schienen sich zuzuziehen, denn die Gesichter der beiden Jungen und des Man nes verwandelten sich in Fratzen, und die Augen traten ihnen aus den Höhlen.
    Es blieb alles still. Nach einer Weile flackerte die Lampe und ging aus. Dunkelheit erfüllte alle Ecken des Zimmers und wartete.

2
    D as Licht der Pazifiksonne filterte hell und warm durch die halb geschlossenen Jalousien, als Florence den Kopf von der Kontaktfläche hob, die Beine von
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