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Seelenfänger

Seelenfänger

Titel: Seelenfänger
Autoren: Andreas Brandhorst
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mir. Jähe Sorge erfasste sie. Wollte Rasmussen sie von Zacharias trennen, um der »therapeutischen Objektivität« willen, die die Foundation verlangte?
    »Aber?«
    »Die Regeln haben durchaus einen Sinn, Florence. Sie dienen keinem Selbstzweck.«
    Plötzlich verstand sie und wirbelte herum. Willst du mich erpressen?, wollte sie Rasmussen fragen. Willst du mich auf diese Weise dazu zwingen, zusammen mit Zach in den nächsten Einsatz zu gehen, obwohl du genau weißt, dass wir beide Ruhe brauchen?
    Aber Jonas Rasmussen stand wie ein Häufchen Elend da, wie jemand, der sich selbst verabscheute. Er hob beide Hände, rieb sich das Gesicht und ließ sie wieder sinken.
    »Auch du bist müde, Jonas«, sagte Florence. »Was ist passiert?«
    »Es passiert ständig etwas. Ich fürchte, Sea City wird nie zu der ruhigen Insel, die ich mir erhofft habe.« Rasmussens Blick ging zu Zacharias, dessen Augen das Geschehen ver folgten. Der Monitor über der rechten Armlehne zeigte meh rere Fragezeichen. »Wir brauchen ihn wirklich, Florence. Jetzt sofort.«
    »Nimm Teneker«, sagte Florence. »Er ist fast so gut wie Zach und …«
    »Um ihn geht es. Um Teneker. Er sitzt in einem Patienten fest, und wenn wir ihn nicht herausholen, könnte es ihm ergehen wie Penelope. Zacharias ist seine einzige Chance.«
    Wer nicht schwindelfrei war, mied die Brücke aus Glas, die sich zwischen zwei »Fingern« des Hauptturms von Sea City spannte. In einer Höhe von fast hundert Metern bot sie einen weiten Blick über die schwimmende Stadt, die bereits hundert Quadratkilometer groß geworden war und bis auf tausend wachsen sollte, womit sie größer wäre als das inzwischen halb überflutete Stadtgebiet des alten New York. Nach Norden schränkten Ring- und kleiner Finger die Sicht ein, nach Westen der Daumen. Im Nordwesten zeigte sich die größte der Hawaii-Inseln am Horizont. Als Florence sie das letzte Mal gesehen hatte, war sie viel näher gewesen und hatte im Osten gelegen. Sea City setzte die Fahrt nicht wie ursprünglich geplant nach Osten in Richtung des nordamerikanischen Festlands fort, sondern folgte jetzt einem südöstlichen Kurs, der die schwimmende Stadt vielleicht nach Mittel- oder Südamerika bringen sollte.
    Der Hauptturm von Sea City mit den Büros, Behandlungszentren und Suiten der Foundation sah aus wie eine hundertfünfzig Stockwerke große stilisierte Hand, die sich bittend dem Himmel entgegenstreckte. Florence stand die ser Art von Symbolik skeptisch gegenüber – sie war als Atheistin aufgewachsen und der Ansicht, dass man keine himmlische Hilfe bei der Lösung irdischer Probleme erwarten durfte, die der Mensch auch noch selbst verschuldet hatte –, aber das Philanthropische Institut versprach sich von solchen Symbolen große Wirkung in der Öffentlichkeit, vor allem bei der Suche nach potenten Geldgebern. Die Erweiterungen von Sea City und der Bau von Sea City 2-5 verschlang gewaltige Summen, und Florence wusste, dass kritische Stimmen laut geworden waren, die eine andere Verwendung der Mittel verlangten. Ein bisschen Symbolik – ein bisschen Pathos – konnte da nicht schaden.
    Florence beschattete sich die Augen, um nicht vom Licht der untergehenden Sonne geblendet zu werden, und sah zum Hafen, wo ein großes jachtartiges Schiff am Kai lag, weiß wie Schnee. Mehrere vermutlich von den Hawaii-In seln stammende militärische Schnellboote leisteten ihm Gesellschaft. Die Schrift am Rumpf der großen Jacht konnte Florence nicht entziffern, aber unter dem H des Hubschrauber-Landeplatzes am Heck bemerkte sie mehrere asiatische Schriftzeichen, deren Kombination ihr vertraut erschien.
    »Die Samsung-Nippon-Gruppe?«, fragte sie.
    »Die Aufgehende Sonne hat den Patienten gebracht«, sagte Rasmussen, der Zacharias’ Rollstuhl schob. »Heute Mor gen. Seine Ankunft war uns angekündigt worden, und Teneker hatte sich vorbereitet, so gut es ging. Viele Informationen bekam er nicht, obwohl wir betont haben, wie wichtig sie sind. Es wurde mehrmals darauf hingewiesen, dass die betreffende Person großen Wert auf ihre Privatsphäre legt.« Rasmussen drehte den Kopf und warf der hinter ihm über die gläserne Brücke gehenden Florence einen kurzen Blick zu. »Ich weiß nur, dass er aus der Network-Entwicklungsabteilung kommt. Ein Spezialist für Datennetze. Es muss ein Topmann sein, denn sonst hätten sie ihn nicht hierhergebracht.«
    »Von wegen Privatsphäre«, brummte Florence. »Vermut lich befürchtet Samsung-Nippon, dass
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