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Seelenangst

Seelenangst

Titel: Seelenangst
Autoren: Veit Etzold
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vorwarnen, wann es kommt.«
    Beide schauten eine Zeit lang schweigend in den grauen Himmel, wo eine dunkle Regenwolke wie eine verlorene Seele über den Horizont zog und dann von einer Windböe zerfasert wurde. Dabei musterte Clara Winterfeld aus dem Augenwinkel. Manchmal machte er die Dinge komplizierter, als sie eigentlich waren, was in eigentümlichem Widerspruch zu seinem ansonsten knallharten Pragmatismus stand. Genauso wie seine Behauptung, manchmal über das Zweite Gesicht zu verfügen, was schon bei einigen Kollegen Kopfschütteln hervorgerufen hatte, wäre da nicht seine hohe Aufklärungsquote gewesen.
    »Ist das Ihr sechster Sinn, der sich da wieder mal meldet?«, fragte Clara schließlich und lächelte ein wenig spitzbübisch. »Behagt Ihnen die Stille nicht?«
    »Nur selten ist Stille wirklich Stille«, erwiderte Winterfeld. »Meist ist sie das Ticken der Bombe vor dem großen Knall.«
    »Sie meinen, es ist wieder so weit.« Eigentlich war Clara froh, sich ein paar Monate lang mit »normalen« Mördern beschäftigt zu haben.
    »Die Stille«, sagte Winterfeld und schloss das Fenster, »war ein bisschen zu lang, um gesund zu sein. Denn manchmal ist es besser«, er schaute Clara an, »die Bombe explodiert sofort, als wenn sie ewig tickt.«

4
    Franco Gayo sprach schon seit etwa sechs Minuten mit Tom, einem seiner Manager, der für ihn überdies eine Art Spin Doctor war und in dieser Funktion dafür sorgte, dass die richtigen Aussagen über die richtigen Kanäle zur richtigen Zeit bei den richtigen Leuten landeten. Something ’s gotta move somewhere sometimes somehow, pflegte Tom zu sagen. Irgendetwas muss irgendwohin, irgendwann, irgendwie.
    Doch jetzt glaubte Gayo, nicht richtig gehört zu haben.
    »Ich soll selbst ein Kind adoptieren?«, fragte er. »Aber ich bin doch nicht Angelina Jolie. Außerdem habe ich gar keine Zeit für Kinder und … Du meinst, das kommt gut an? Okay, ich kann’s mir ja mal überlegen.« Er ging mit dem schnurlosen Telefon zur Fensterfront und blickte in die Abenddämmerung.
    Kinder. Seine Frau, eine hochrangige Politikerin, kannte er praktisch nur noch aus dem Fernsehen, denn ihr Terminkalender war noch voller als seiner. Aber sie war nützlich, denn sie sorgte für kostenlose zusätzliche PR. Ob er sie liebte, wusste er nicht, ob sie ihn liebte noch weniger. Aber darum ging es auch gar nicht. Es ging um das Gesehenwerden, um Aufmerksamkeit. Und am Ende um harte Euros und Dollars.
    Hart sein gegen sich selbst und alle, die nicht so wollten wie er, das war Gayos Devise. So war es auch in der Kanzlei immer gelaufen. Associates, die keine Leistung brachten, wurden sofort gefeuert. Partner, die nicht genug Stunden aufschrieben und genügend Umsätze machten, wurden »de-equitized«, wie man das Herauskaufen von Leuten aus der Partnerschaft nannte, die die Firma loswerden wollte. De-Equitizing klang kryptischer und klinischer als »terminieren«, wie man den Abbau von unerwünschtem Personal im Investmentbanking nannte.
    Aber jetzt ein Kind adoptieren?
    »Wo soll das Kind denn herkommen?«, nahm Gayo den Gesprächsfaden wieder auf.
    »Am besten, du adoptierst mehrere, aber immer schön hintereinander, damit die Medien jedes Mal neues Futter kriegen«, sagte Tom. »Ist auch gut für die Karriere deiner Frau.«
    »Und woher?«
    »Eine selten dämliche Frage«, erwiderte Tom. »Aus Spiekeroog vielleicht? Mann, aus Haiti natürlich, woher denn sonst?«
    Gayo ärgerte Toms Direktheit, aber irgendwie mochte er sie auch. In seinem Geschäft hatte er es sonst fast nur mit Beschwichtigern und Speichelleckern, Jasagern und Politikern, UNO-Leuten und Talkshowmoderatoren zu tun. Da war ein bisschen Klartext ganz gut, so wie er es aus der Kanzlei von früher kannte.
    »Ich soll mit gutem Beispiel vorangehen, was?«, fragte er.
    »Ja. Und Brangelina und all den anderen Spinnern den Wind aus den Segeln nehmen.« Tom atmete hörbar aus. »Schöne und erfolgreiche Menschen werden in unserer Neidgesellschaft sofort niedergemacht. Es sei denn, sie adoptieren hundert arme Negerkinder, so wie Angelina und Brad. Was im Mittelalter der Ablasshandel war, sind heute die Bimbokinder. Das macht ein gutes Gewissen. Für alle. Und es wirkt. Jedenfalls sind Angelinas Gagen seitdem in die Höhe geschossen, auch wenn sie immer mehr abmagert und in The Tourist trotz Make-up so aussah, als wäre sie gerade aus einem Krater in Haiti oder einem Lager der Roten Khmer in Kambodscha gekrochen.«
    Ein Kind adoptieren ,
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