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Seelenangst

Seelenangst

Titel: Seelenangst
Autoren: Veit Etzold
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getan hatte, was sein Meister wollte.
    Sein Meister hatte nicht zu viel versprochen.
    Denn als er auf die blutrote Tischplatte blickte, geschah etwas, was gar nicht möglich war.
    Er sah.
    Neben dem Skalpell, in einer Pfütze aus Blut und durchtrennten zarten Muskelfasern, sah er im kalten Licht der Neonlampe seine herausgeschnittenen Augen.

Erstes Buch
D ER E NGEL UND DAS S CHWERT
    Wenn Gott zu uns spricht,
dann werden wir sterben.
    Exodus, 20, 19

1
    Clara Vidalis, Hauptkommissarin und Expertin für Forensik und Pathopsychologie am LKA Berlin, schaute aus dem Fenster und blickte auf die Stadt, die in der vom Regen durchweichten Erde lag wie eine aufgedunsene Leiche in einem von Würmern zerfressenen Grab. Es war ein trostloser Februarnachmittag, und der Himmel über dem LKA Berlin sah aus wie das graue Flimmern auf dem Bildschirm eines Fernsehers, der auf einem falschen Kanal lief. Was die junge Frau jedoch nicht davon abhielt, weiterhin aus dem Fenster zu schauen.
    Ad plures ire, ging es ihr durch den Kopf. Zu den vielen gehen.
    Die alten Römer hatten diese Wendung benutzt. Die vielen , das waren die Toten. Wer zu den vielen ging, der war gestorben. In der gesamten Menschheitsgeschichte war die Anzahl der Toten stets größer gewesen als die der Lebenden. Es gab Berechnungen, wie viele Tote es seit der Entstehung der Menschheit gegeben hatte, und es gab Wissenschaftler, die behaupteten, mit sieben Milliarden Menschen sei bald jener Punkt erreicht, an dem die Anzahl der Lebenden größer sei als die sämtlicher Toten. Blieb allerdings die Frage offen, ob das ein Grund zur Freude war.
    Claras Gesicht war hübsch, mit einem südländischen Einschlag, was vermutlich daran lag, dass spanisches und italienisches Blut durch ihre Adern strömte. Nur wenn sie die Lippen zusammenpresste, zeigte sich auf ihrem Gesicht eine Spur jener Härte und Unnachgiebigkeit, die der Beruf ihr abverlangte. Ihr Haar war schwarz, und ihre blauen Augen zeigten jenen eigentümlichen Ausdruck, wie Menschen ihn besitzen, deren Sichtfeld nicht begrenzt ist und die es gewohnt sind, bis zum Horizont zu schauen – und dahinter. Wie Seeleute oder Flugkapitäne.
    Doch es war nicht der Blick in den Himmel und über das Meer, der Claras Augen verändert hatte, sondern der Blick in die Abgründe der menschlichen Seele und deren dunkle Seite.
    In dem Film The Ring lauert das Böse im Fernseher , ging es ihr durch den Kopf, während sie in den wolkenverhangenen Himmel blickte, und alle, die zu lange hineinschauen, werden wahnsinnig.
    Schließlich riss sie sich los und senkte den Blick. Wenn ich hier noch lange Löcher in die Luft starre, verliere auch ich den Verstand.
    Sie klappte die Mappe, die sie vorher auf der Fensterbank durchgeblättert hatte, zusammen und steckte das Handy, das daneben lag, in die Hosentasche. Ihre Bewegungen waren geschmeidig, kraftvoll und präzise und ließen erkennen, dass sie Yoga und Kampfsport praktizierte.
    Clara hatte eine Pause gebraucht. Sie waren gerade mit einem Verhör fertig geworden. Endlich hatten sie das Geständnis. Zwei Vergewaltiger. Claras Kollege Hermann und zwei Polizisten waren noch unten im Keller, um die Formulare für die Staatsanwaltschaft und das Gericht fertig zu machen.
    Vieles hatte gegen die beiden Schuldigen gesprochen, doch sie hatten mit einer Beharrlichkeit geleugnet, die an Frechheit grenzte. Sie hatten zwei Frauen vergewaltigt, eine davon getötet und die Leiche auf einem Waldweg liegen lassen. Der Kopf der Toten war mit einem Pflasterstein zerschmettert worden, Arme und Beine ausgebreitet, das weiße, von Schmutz und Blut befleckte Kleid wie eine Mischung aus Hochzeitskleid und Leichenhemd.
    Sollte es ein Engel sein, den die Täter mit der Leiche nachgestellt hatten? Der Verdacht an einen religiös motivierten Mord hatte sich aufgedrängt, doch es war ein physikalisches Phänomen gewesen, das man mit einer Schaufensterpuppe nachstellen konnte: Greift man einem leblosen Menschen von hinten unter die Arme, zieht ihn ein Stück weit und lässt ihn dann fallen, bleibt er meist mit ausgebreiteten Armen liegen.
    Und dass die Frau ein weißes Kleid getragen hatte, war Zufall gewesen – genauso wie die Tatsache, dass sie und ihre Freundin auf dem Weg zu ihrem Lieblingsclub an einer Tankstelle mit den falschen Leuten ins Gespräch gekommen waren.
    Kein Engel, ging es Clara durch den Kopf. Für sie hatte es nur einen Engel gegeben. Und der war jetzt im Himmel, falls es einen gab.
    Clara war
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