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Seelen

Titel: Seelen
Autoren: Stephenie Meyer
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trotzdem konnte sie flüssig und ausdrucksstark sein. Manchmal sogar schön. Dies war jetzt meine Sprache. Meine Muttersprache.
    Den Urinstinkten meiner Spezies folgend, hatte ich mich fest mit dem Zentrum dieses Körpers verbunden, mich unlösbar mit jedem seiner Atemzüge und Reflexe verflochten, bis er kein unabhängiges Wesen mehr war. Er war ich.
    Nicht der Körper, mein Körper.
    Ich spürte, wie die Narkose nachließ und ich immer wacher wurde. Ich wappnete mich für den Angriff der ersten Erinnerung, die in Wirklichkeit die letzte sein würde - die letzten Augenblicke, die dieser Körper erlebt hatte, die Erinnerung an das Ende. Ich war eindringlich gewarnt worden. Die menschlichen Emotionen würden stärker, lebendiger sein als die Gefühle aller anderen Spezies, in deren Körpern ich gelebt hatte. Ich hatte versucht, mich darauf vorzubereiten.
    Die Erinnerung kam. Und genau, wie man mir vorhergesagt hatte, war es unmöglich, darauf vorbereitet zu sein.
    Sie brannte sich mit grellen Farben und dröhnendem Lärm in sie ein. Kälte auf ihrer Haut, Schmerz in ihren Gliedern, wie Feuer. Ein beißender, metallischer Geschmack in ihrem Mund. Und dann war da der neue Sinn, der fünfte Sinn, den ich bisher nie gehabt hatte, der Teilchen aus der Luft sog und sie in ihrem Gehirn in seltsame Botschaften und Freuden und Warnungen verwandelte - Gerüche. Sie lenkten mich ab, verwirrten mich, nicht aber ihre Erinnerung. Die Erinnerung hatte keine Zeit für die Neuigkeit des Geruchs. Die Erinnerung war reine Angst.
    Diese Angst hielt das Mädchen wie in einem Schraubstock gefangen, trieb ihre müden, stolpernden Glieder vorwärts und behinderte sie gleichzeitig. Fliehen, rennen - das war alles, was sie tun konnte.
    Ich habe versagt.
    Die Erinnerung, die nicht meine war, war so erschreckend intensiv und deutlich, dass sie meine Kontrolle durchbrach; sie machte meine Distanz und das Wissen, dass dies nur eine Erinnerung war und nicht ich selbst, zunichte. Sie sog mich in die Hölle der letzten Minuten ihres Lebens. Ich war sie und wir rannten.
    Es ist so dunkel. Ich kann nichts sehen. Ich kann den Boden nicht sehen. Ich kann meine ausgestreckten Hände nicht sehen. Blind renne ich weiter und versuche die Verfolger zu hören, die ich hinter mir spüren kann, aber mein Puls dröhnt so laut in meinen Ohren, dass er alles übertönt.
    Es ist so kalt. Das spielt jetzt eigentlich keine Rolle mehr, aber es tut weh. Mir ist so kalt.
    Der Geruch in ihrer Nase war unangenehm. Schlecht. Es stank. Einen Augenblick lang riss mich dieses Unbehagen aus der Erinnerung heraus. Aber es war nur ein kurzer Moment und dann wurde ich wieder hineingezogen und meine Augen füllten sich mit Tränen des Entsetzens.
    Ich bin verloren. Wir sind verloren. Es ist vorbei.
    Ich kann sie jetzt hinter mir hören, laut und nah. Da sind so viele Schritte. Ich bin allein. Ich habe versagt.
    Ich höre die Sucher rufen. Der Klang ihrer Stimmen dreht mir den Magen um. Gleich muss ich mich übergeben.
    »Ist ja gut, ist gut«, lügt eine von ihnen in dem Versuch, mich zu beruhigen, mich zu verlangsamen. Ihre Stimme klingt atemlos.
    »Pass auf!«, ruft einer warnend.
    »Tu dir nicht weh«, fleht ein anderer. Eine tiefe, besorgte Stimme.
    Besorgt!
    Hitze schoss durch meine Adern und Hass ließ mich beinahe ersticken. So hatte ich mich in all meinen Leben noch nie gefühlt. Mein Abscheu riss mich einen weiteren Augenblick aus der Erinnerung heraus. Ein hoher, durchdringend schriller Ton durchbohrte meine Trommelfelle und pulsierte in meinem Kopf. Das Geräusch schrammte durch meine Atemwege. Ich spürte einen leichten Schmerz im Hals.
    Schreien , erklärte mein Körper. Du schreist.
    Ich erstarrte und das Geräusch brach abrupt ab.
    Das war keine Erinnerung.
    Mein Körper - er dachte! Sprach mit mir!
    Aber die Erinnerung war in diesem Moment stärker als meine Verwunderung.
    »Bitte!«, rufen sie. »Gefahr! Vor dir!«
    ›Die Gefahr ist hinter mir,‹ schreie ich in Gedanken zurück. Aber ich sehe, was sie meinen. Ein schwacher Lichtstrahl, der von wer weiß wo kommt, beleuchtet das Ende des Flurs. Die Sackgasse, die ich fürchte und erwarte, endet nicht mit einer Wand oder verschlossenen Tür.
    Sie endet mit einem schwarzen Loch.
    Der Aufzugschacht. Verlassen, leer und baufällig wie dieses Gebäude.
    Früher ein Versteck, jetzt ein Grab.
    Eine Welle der Erleichterung durchflutet mich, als ich weiterrenne. Es gibt einen Weg. Vielleicht keinen Weg, zu überleben, aber
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