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Seele zum Anbeißen: Roman (German Edition)

Seele zum Anbeißen: Roman (German Edition)

Titel: Seele zum Anbeißen: Roman (German Edition)
Autoren: Irene Zimmermann
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habe.
    »Schätze, das ist ein neues Betätigungsfeld für deinen Bruder«, knurrt Rudolf, der gerade aus dem Bad kommt. Er stellt sich ans Fenster, schiebt die Gardine zurück und bewundert die Aussicht auf den Nachbargarten samt originalem Nordseestrandkorb. »Ich verstehe nicht, warum er so über Handwerker schimpft. Das ist doch glatte Nestbeschmutzung.«
    Ich wälze mich auf die andere Seite, und das missmutige Knarren geht in ein gemütliches Quietschen über. »Ach so, die Fliesen ... Nein, du irrst dich, Wolfgang ist kein Handwerker.« Ich lache. »Na ja, irgendwie doch, eben in der Mundhöhle. Zahnarzt ist eigentlich auch nichts anderes als ein Handwerker.«
    »Zahnarzt?«
    »Ja, aber ohne Doktortitel, was Renate noch irgendwann in den Wahnsinn treibt. Jede Wette, dass sie dich nachher gleich fragt, wie du dazu gekommen bist. Woher weiß sie überhaupt von deinem Titel? Internet? Meinst du, sie hat dich gegoogelt?«
    »Vermutlich.« Es klingt nicht sehr interessiert, was für Rudolf untypisch ist, denn ich weiß, dass er mindestens einmal die Woche seinen Namen googelt. Ich drehe mich alarmiert um. Gerade noch rechtzeitig, denn er hat nach dem Fotoalbum gegriffen, das einladend auf der Fensterbank liegt. »Meine Jugend«, liest er schmunzelnd vor, »aha, sehr interessant«, und schlägt es auf.
    »Steht da tatsächlich
Meine Jugend
?«, wiederhole ich fassungslos. Nie im Leben habe ich so etwas auf das Album geschrieben. Erstens hört sich das so entsetzlich abgeschlossen an, und zweitens ... Ich springe auf, will Rudolf das Album entreißen, aber er amüsiert sich prächtig, lachend meint er: »Ich will unbedingt ein Foto deiner ersten großen Liebe sehen und deiner zweiten und ...«
    Ein dumpfer Gong ertönt. Ich nütze einen kurzen Moment der Unaufmerksamkeit bei Rudolf, um das heikle Dokument in Sicherheit zu bringen. »Essen gibt’s«, sage ich. »Wenn du brav bist, darfst du heute Abend Bilder gucken. Aber nur die schönsten. Und jetzt komm endlich!«
    Alle sitzen bereits am Tisch, als wir das Esszimmer betreten. Irgendjemand – vermutlich Renate – hat das gute Geschirr gedeckt, wie ich zufrieden feststelle, aber außer ein paar Brezeln im Brotkorb ist erstaunlicherweise nichts Essbares zu sehen. Immerhin wirkt Papa merklich fitter als vorhin, obwohl er immer noch im Bademantel ist.
    »Komm, setz dich neben mich, Dorothea«, sagt er mit erstaunlich fester Stimme.
    »Du erkennst mich ja doch!«, rufe ich erfreut.
    Vielleicht ist es mit meinem Vater gar nicht so schlimm, wie Wolfgang letzte Woche am Telefon behauptet hat. Wahrscheinlich war das mal wieder die übliche Übertreibung, zu der Renate so gerne neigt und mit der sie auch meinen Bruder zunehmend ansteckt. Ich finde jedenfalls, dass Papa von einer schweren Verwirrtheit, wie Wolfgang diagnostiziert hat, noch ein ganzes Stück entfernt ist.
    »Papa, wie geht es dir denn im Moment? ... Doch ganz gut, oder?«, füge ich hinzu. Wolfgang macht aufgeregt Zeichen, die ich aber nicht deuten kann. Fragend sehe ich ihn an.
    »Vater erkennt dich nicht wirklich oder falls doch, dann nur kurz«, erklärt er flüsternd, als ich meinen Stuhl neben den von Papa gerückt habe. »Es gibt bei ihm gute und schlechte Tage, aber mach dir bloß keine große Hoffnung. Sein Zustand wird nicht mehr besser. Das ist Tatsache. Leider.«
    Papa will etwas sagen, aber mein Bruder lässt ihn nicht zu Wort kommen. Er klopft an sein Glas, und ich ahne, dass er wieder eine seiner berüchtigten Reden halten will. Damals, als er für den Vorstand der Zahnärztekammer kandidierte, war er nur deshalb nicht gewählt worden, weil er neunzig Minuten lang begeistert über irgendeinen Zahnzement referiert hatte (ein Thema, das kein Schwein interessierte, geschweige denn einen der anwesenden Zahnmediziner), während im Saal nebenan das Essen des exquisiten Sternekochs kalt wurde.
    Deshalb rufe ich schnell: »Danke für eure liebe Einladung! Wir freuen uns so, hier zu sein! Und wir sind natürlich sehr gespannt, was Renate wieder Feines gekocht hat.«
    Renate, die die letzte halbe Stunde bestimmt nicht in der Küche, sondern eher vor dem Schminkspiegel verbracht hat, bricht in helles Lachen aus. »Ja, ich hab mir gedacht, dass dein Herr Doktor sicherlich neugierig auf die schwäbische Küche ist. Wir Schwaben lieben ja das Deftige, und was würde da besser passen als ein original schwäbischer Leberkäs.«
    »Leberkäs ...«
    Mit etwas Fantasie könnte man in der Art und Weise, wie mein
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