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Seele zum Anbeißen: Roman (German Edition)

Seele zum Anbeißen: Roman (German Edition)

Titel: Seele zum Anbeißen: Roman (German Edition)
Autoren: Irene Zimmermann
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nämlich, dass dann, wenn ich pünktlich am Bahnhof bin, der Zug verspätet ist. Und wenn ich zu spät bin, ist der Zug natürlich ausnahmsweise pünktlich. So war das immer, und so wird das auch heute wieder sein. Der Zug und ich sind sozusagen nicht kompatibel; wie Mann und Frau sozusagen. Aber über dieses schwierige Thema will ich lieber nicht nachdenken, ich habe auch gar nicht die Zeit dazu.
    Wertvolle Minuten habe ich nämlich dadurch verloren, dass ich nicht den kürzesten Weg durch den Stadtpark genommen habe, sondern einen Umweg über die Mozartstraße machen musste. Das ging nicht anders, denn ich wollte auf gar keinen Fall versehentlich auf unseren Baum zulaufen.
Du wurdest magisch von ihm angezogen
, würde Yasemin sagen, und vermutlich hätte sie sogar recht.
    An der kleinen Treppe zum alten Rathausplatz hinunter ziehe ich meine Schuhe aus und stopfe sie in den Rucksack, wobei mir auffällt, dass eine der Nähte gar nicht mehr so gut aussieht. Lieber Gott, mach, dass dieser Rucksack bis zum Bahnhof hält, aber bis Berlin wäre noch besser, bete ich, als ich die Treppe hinunterrenne. Wobei dieses Tätigkeitswort meine Fortbewegungsart eher unzutreffend beschreibt,
eiern
passt eindeutig besser (was aber ausschließlich am Koffer liegt, der immer mehr Schlagseite bekommt). Ich hoffe für alle Einwohner Aulendorfs, dass sie noch selig schlafen und ihnen so dieses unwürdige Schauspiel erspart bleibt.
    Als ich an der Volksbank vorbeikomme (ist hier womöglich eine Überwachungskamera?), verlangsame ich mein Tempo und ziehe für die nächsten hundert Meter meine Schuhe wieder an. Ich habe wirklich keine Lust, meinen Entengang demnächst bei YouTube zu entdecken. Leider verliere ich durch diese Aktion mindestens drei Minuten und, was noch schlimmer ist: Soweit ich mich erinnere, gibt es auf dem Weg zum Bahnhof noch weitere Banken. Ich fluche leise vor mich hin. Wenn der Zug doch nur zehn Minuten Verspätung hätte. Die Schuhhalde hinunter geht es bestimmt schneller, in der Bachstraße werde ich die Schuhe ausziehen und losrennen. Entschlossen eiere ich weiter. Hinter mir wird gehupt.
    »Idiot!«, schimpfe ich und zeige auf das riesige blauweiße Verkehrsschild. »Spielzone!«
    Aber weil das Hupen einfach nicht aufhört, drehe ich mich um, klopfe mir mit dem Finger an die Stirn ... und lasse ihn im Zeitlupentempo wieder sinken. Aber das ändert jetzt auch nichts mehr. Mit offenem Mund stehe ich da und schaue zu, wie Uli aus dem Auto steigt.
    »Komm!«, ruft er und greift nach meinen Sachen. »Ich fahr dich runter!«
    Es geht mir zwar etwas gegen meine Ehre, dass er mich zum Bahnhof fährt, aber darauf kann ich jetzt keine Rücksicht nehmen. Außerdem bin ich sowieso erst einmal völlig durcheinander (das Herzklopfen bis zum Hals kommt bestimmt nur von meinem rekordverdächtigen Tempo), und ich brauche einen Moment, bis ich wieder sprechen kann.
    »Telefonkonferenz?«, frage ich, als er losfährt.
    Uli lacht. »Ja, schon. Das hat sich ganz gut eingespielt in den letzten Tagen.«
    Ich schweige. Vielleicht will ich auch nicht reden, weil ich ein letztes Mal spüren möchte, wie es ist, Uli so nah zu sein. Warum musste alles auch so dumm laufen, denke ich; hätte ich gestern nicht sein Handy genommen, wäre ich vielleicht noch ein paar Tage länger glücklich gewesen.
    »Dein Zug hat übrigens eine Dreiviertelstunde Verspätung, weiß ich aus dem Internet«, sagt er, als er kurze Zeit später vor dem Bahnhof hält. »Ich kann dein Gepäck schon mal auf den Bahnsteig bringen, wenn du willst. Du kannst aber auch hier im Auto warten, wenn dir das lieber ist.«
    Ich zögere. Uli ist so verändert, so sachlich, so kühl. Als ob er eine flüchtige Bekannte zum Zug bringen würde.
    »Und? Wie hättest du’s gern?«, fragt er nach.
    »Uli, was ist los? Warum behandelst du mich so?« Mir steigen schon wieder die Tränen hoch, was sehr ungünstig ist (keine wasserfeste Mascara) und die Taschentücher habe ich bei Papa gelassen; ich hatte eigentlich nicht vor, jemals wieder zu heulen. »Das ist nicht fair.«
    Uli stützt sich mit den Unterarmen aufs Lenkrad, starrt vor sich hin, schweigt. Als er schließlich zu mir herüberschaut, erschrecke ich. Er ist fahl im Gesicht und hat tiefe Augenringe.
    »Dorle, ich wollte dich nur noch einmal sehen«, sagt er mit brüchiger Stimme, »ein allerletztes Mal. Aber ich brauche eine Mauer zwischen uns. Sonst halte ich es nicht aus, dass ich dich wieder verliere.«
    Ich sollte jetzt
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