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Seele zum Anbeißen: Roman (German Edition)

Seele zum Anbeißen: Roman (German Edition)

Titel: Seele zum Anbeißen: Roman (German Edition)
Autoren: Irene Zimmermann
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Tüte herauskramt.
    Leberkäs! Ich rieche es ganz deutlich.
    »Du musch etzt was essa, Bub!«
    Rudolf wirft mir einen Blick zu, halb verzweifelt, halb belustigt. Im ersten Moment vermute ich, das könnte an der ganz speziellen Duftnote liegen, die in Schwaden zu mir herüberzieht, aber dann flüstert mein Herzallerliebster mir zu: »Reden hier alle so merkwürdig? So … unterirdisch«, und für Sekunden könnte ich ihn glatt erwürgen. Immerhin ist Schwäbisch meine Muttersprache, auch wenn ich sie bestimmt seit fast dreißig Jahren nicht mehr spreche, vielleicht schon gar nicht mehr beherrsche, aber trotzdem! Sicher ist jedenfalls: Die allerersten Laute, die ich gehört habe, waren schwäbische, und dieser Tatsache könnte Rudolf ruhig etwas mehr Feingefühl entgegenbringen.
    Ich beschließe, die fällige Diskussion darüber noch etwas zu verschieben. Bei der Gelegenheit werde ich Rudolf auch gleich schonend beibringen, dass meine Familie keine ursprünglich hanseatisch-vornehmen Wurzeln hat, wie er immer noch vermutet (im Spaß und nach drei Caipirinhas habe ich so etwas mal angedeutet), sondern schon immer auf der schwäbische Scholle in Aulendorf daheim war, mit einem maximalen Umzugsradius von gerade mal vierundzwanzig Kilometern, bis Ravensburg, wo mein Bruder wohnt. Ich bin – außer Tante Frieda, aber die ist ein Sonderfall – die Einzige, die weiter gekommen ist: bis Berlin nämlich.
    Allerdings bedeutet das Leben dort (neben allerhand Annehmlichkeiten wie zum Beispiel Rudolf) leider auch den Verzicht auf echt original schwäbischen Leberkäs, frisch gebacken, am Rand etwas kross, ansonsten von schmelzender Zartheit und mit diesem gewissen Geschmack … Ich stöhne auf, und Rudolf sieht mich besorgt an. »Alles in Ordnung«, versichere ich. »Ich brauch nur schnell was zu essen.« Dass ich bei der Gelegenheit auch noch meinen Bruder anrufe und ihn schon mal vorwarne, brauche ich Rudolf ja nicht auf die Nase zu binden.
    »Aber unser Zug kommt doch in fünf Minuten!«, ruft Rudolf mir besorgt nach.
    Was ist schon ein verpasster Zug mehr oder weniger, denke ich, als ich den Bahnsteig entlangstürme. Irgendwo in der Ankunftshalle muss es frischen Leberkäs geben, da bin ich mir ganz sicher, oder noch besser, vielleicht eine nette kleine Metzgerei ganz in der Nähe, mit weiß gekacheltem Verkaufsraum, einer Verkaufstheke aus den sechziger Jahren und neben dem Zahlteller an der Kasse liegt die
Bäckerblume
griffbereit.
    Ich merke selbst, wie bei mir einiges durcheinandergerät, bleibe an der Anzeigetafel Ankunft/Abfahrt stehen und atme tief durch, wie ich das im Yogakurs gelernt habe. Vielleicht sollte ich doch erst einmal Wolfgang anrufen.
    »Bist du schon da?«, fragt er überrascht. »Das passt mir jetzt aber gar nicht. Ich bin noch im Baumarkt. Kommt dein Zug nicht erst um eins?«
    Begeisterung hört sich anders an, aber ich weiß, mein Bruder meint es nicht so. »Du kannst ganz beruhigt sein, im Moment bin ich noch in Ulm. Aber was ich dir sagen wollte ... Ich bringe Rudolf mit.«
    »Rudolf? Ja wozu denn das?«
    »Ja, mein Gott, wozu wohl? Was soll jetzt dieser Ton? Es ist ja wohl selbstverständlich, dass er mitkommt. Sag bitte Renate, dass sie ...«
    »In Ordnung.« Und schon hat er aufgelegt.
    Das fängt ja gut an, denke ich, als ich das Handy wegstecke. Weil es aber wenig zielführend ist, über etwas nachzudenken, was man nicht beeinflussen kann (eine Erkenntnis, die ich aus dem sehr lesenswerten Taschenbuch
So meistern Sie den Tag
von J. B. Malloway habe), höre ich lieber erst einmal auf meine innere Stimme. Und die sagt mir: Liebe Doreen, dein Weg führt dich jetzt zu einem Leberkäsweck.
    Ich lausche diesen Worten sekundenlang nach und überlege gerade, ob dieser Weg mich nun eher nach rechts oder links führen wird, da werde ich unsanft angerempelt. Dank unzähliger Kurse bei Helen (Autogenes Training für Powerfrauen, Berlin, Mommsenstraße, nicht ganz billig, aber wirklich zu empfehlen!) gelingt es mir, erstaunlich sanft »Idiot!« zu brüllen. Was allerdings nahtlos in ein entsetztes »Oh Gott!« übergeht.
    Der Mann mir gegenüber lächelt mich an. »Na, so schlimm war’s jetzt auch nicht, oder? Aber wenn man so gschuggd in der Gegend rumsteht und ...«
    »Uli ...?«
    Ich habe es als Frage formuliert, aber eigentlich ist es eine Feststellung. Natürlich, das ist er, dieselben blauen Augen, dieselben blonden Haare, inzwischen etwas angegraut an den Schläfen, die kleine Narbe auf der Stirn,
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