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Seele zum Anbeißen: Roman (German Edition)

Seele zum Anbeißen: Roman (German Edition)

Titel: Seele zum Anbeißen: Roman (German Edition)
Autoren: Irene Zimmermann
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beruhigt die Augen, um mich ein paar Minuten zu erholen (wer weiß, was noch alles passiert?), da kommt Rudolf auf die grandiose Idee, er und Uli könnten sich doch einen anderen Platz suchen, damit ich absolute Ruhe hätte.
    »Kein Thema«, flüstert Uli, und während die beiden losziehen, schrillen bei mir bereits sämtliche Alarmglocken. So viel Rücksichtnahme ist schon wieder höchst verdächtig. Rudolf neigt leider dazu, viel und detailreich über höchst private Dinge zu plaudern, vorausgesetzt, er ist in der richtigen Stimmung. So wie jetzt zum Beispiel. Trotz über neun Stunden Zugfahrt scheint er plötzlich gewaltig unter Strom zu stehen – ganz im Gegensatz zu mir. Und während ich noch hin und her überlege, wie ich Rudolf daran hindern könnte, vor Uli unser gesamtes Liebesleben auszubreiten – mit den entsprechenden Übertreibungen –, bleibt der Zug stehen, mitten in der Pampa. Ich darf oberschwäbische Äcker bewundern und verfalle schon fast in eine meditative Stimmung angesichts der beruhigenden Brauntöne vor dem Fenster. Kann aber auch sein, dass ich einfach nur erschöpft bin.
    Allerdings wird die kleine Stimme in meinem Hinterkopf immer lauter. Was ist, wenn Rudolf schon längst ahnt, dass Uli und ich ... Wenn das alles nur ein kluger Schachzug von Rudolf ist, mit dem er Ulis Vertrauen gewinnen will? Damit der auspackt? Und womöglich erzählt, dass ...? Oh Gott! Wer sagt mir denn, dass mein Rudolf nicht in einem Winkel seines Herzens immer noch der Kriminalkommissar ist, der er vor zwanzig Jahren war? Dessen Verhöre beim BKA angeblich legendär und immer hundertprozentig erfolgreich waren.
    Ich springe auf und haste durch den Zug. Wo stecken die beiden nur? Und wie erkläre ich am besten, dass ich jetzt so plötzlich auftauche? ... Migräne schon wieder weg? ... Fahrkartenkontrolle? Wo sind überhaupt unsere Fahrscheine? ... Oder plötzliche Sehnsucht nach Rudolf? ... In meinem Kopf überschlagen sich die Gedanken, und ich spüre, aus diesem Chaos könnte tatsächlich eine echte Migräne werden. Aber für solche Wehleidigkeiten ist jetzt keine Zeit. Ich muss retten, was noch zu retten ist!
    Ganz am Ende des Zuges finde ich die beiden endlich. Uli schaut auf, lächelt und legt den Finger an die Lippen. »Pst, dein Rudolf schläft.«
    Aufatmend lasse ich mich in den Sitz neben meinem Herzallerliebsten fallen. Alles noch mal gutgegangen, denke ich, und dann bewegt sich auch endlich wieder der Zug, langsam zwar, aber immerhin. Schweigend sitzen wir da. Ich lehne meinen Kopf an Rudolfs Schulter, schließe die Augen und versuche ruhig zu atmen. Leider klappt es mit der fließenden Bauchatmung überhaupt nicht, auch die Beschwörungsformel Ich-bin-ganz-ruhig-ich-bin-ganz-entspannt versagt. Im Gegenteil, mein Herz schlägt bis zum Hals; wenn es so weitergeht, werde ich demnächst hyperventilieren – mit allen unerfreulichen Begleiterscheinungen. Und das nur, weil ich das sichere Gefühl habe, von Uli beobachtet zu werden.
    Nicht mit mir!, denke ich wütend. Unvermittelt reiße ich die Augen auf. Und bin beruhigt. Er döst nämlich auch. So habe ich Zeit, ihn endlich in aller Ruhe anzuschauen und das Bild, das ich all die Jahre in meinem Herzen herumgetragen habe, mit der Realität abzugleichen. Ich unterdrücke einen Seufzer. Uli wird demnächst fünfzig, Ende August hat er Geburtstag, aber niemand würde ihm sein Alter ansehen. Vielleicht liegt das an seiner sportlichen Figur, vielleicht an dem ausgeglichenen Eindruck, den er macht. Beneidenswert, er scheint mit sich völlig im Reinen zu sein. Fast habe ich den Eindruck, dass er lächelt. Unser erster Kuss fällt mir ein, ein verstohlener Kuss im Halbdunkel vor dem Klassenzimmer, direkt vor einer Mathearbeit, und die ganze nächste Stunde konnte ich an nichts anderes mehr denken und ...
    Jetzt scheine ich tatsächlich geseufzt zu haben, denn Uli ist plötzlich hellwach.
    Sekundenlang starren wir einander an.
    Zum ersten Mal seit Jahren werde ich wieder rot.

3. Kapitel
    Mit vierzigminütiger Verspätung steigen wir in Aulendorf aus. Ich habe zwar erfolgreich jeglichen Blickkontakt mit Uli vermieden, dafür jetzt aber einen steifen Hals.
    »Ja, da wären wir also«, stellt Uli fest und streckt Rudolf die Hand entgegen. »Willkommen in Aulendorf! Ich nehm doch an, wir sehen uns noch mal.«
    »Aber sicher, das wär doch gelacht, nicht wahr, Doreen?«
    Ich bin sehr intensiv mit dem Inhalt meiner Handtasche beschäftigt (Wo steckt bloß dieser
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