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Scriptum

Scriptum

Titel: Scriptum
Autoren: Raymond Khoury
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zwar bald. Doch zunächst brauchte er Ruhe, genau wie sie. Statt sich in ihr eigenes Bett zu legen, kuschelte sie sich
     an Reilly, schloss die Augen und war bald eingeschlafen.

KAPITEL 84
    Die nächsten Tage erlebte Tess wie in einem Nebel. Morgens blieb sie bei Reilly, unternahm danach lange Spaziergänge und war
     zum Mittagessen zurück. Am späten Nachmittag wagte sie sich wieder hinaus und wanderte meist zur Burgruine, wo sie zusah,
     wie die untergehende Sonne mit dem schimmernden Wasser der Ägäis verschmolz. Diese Tageszeit war ihr die liebste. Sie saß
     ganz still da, es duftete nach Salbei und Kamille, und die idyllische Landschaft zwischen den Felsen lenkte sie ein wenig
     von dem kleinen Bündel in ihrem Zimmer ab, um das ihre Gedanken sonst unablässig kreisten.
    Auf ihren Spaziergängen war sie vielen Leuten begegnet, die immer ein Lächeln und ein paar nette Worte für sie übrig hatten.
     Am dritten Tag hatte sie die meisten Gassen und Wege des Ortes erforscht und wagte sich weiter hinaus. Begleitet von Eselgeschrei
     und dem Gebimmel der Ziegenglocken, entdeckte sie die verborgenen Winkel der Insel. Sie hatte eine lange Wanderung zum über
     einen Damm erreichbaren Inselchen Ay Emilianos unternommen, auf dem sie die Ikonen in der weiß getünchten Kirche besichtigt
     hatte und über den kiesigen Strand gelaufen war, wo Seeigel an den Felsen unterhalb der Wasseroberfläche hafteten. Sie besuchte
     das weitläufige Kloster in Panormitis, wo sie zu ihrer Überraschung drei Geschäftsleute aus Athen vorfand, die in denkahlen Gästezimmern wohnten, weil sie einige Tage Ruhe, Einkehr und geistige Erneuerung suchten. Tatsächlich konnte man der
     Gegenwart der Kirche kaum entkommen. Die Gotteshäuser bildeten den Mittelpunkt der Dörfer, und wie alle griechischen Inseln
     besaß auch Symi Dutzende winziger Kapellen, die über sämtliche Hügel und Anhöhen verstreut lagen. Wohin man auch ging, überall
     wurde man an den Einfluss der Kirche erinnert, den Tess aber nicht als bedrückend empfand. Im Gegenteil, die Kirche schien
     ein natürlicher und unverrückbarer Teil des Insellebens zu sein, der die Bewohner wie ein Magnet anzog und ihnen Trost und
     Kraft spendete.
    Reillys Zustand besserte sich zusehends. Er atmete leichter, die Schwellungen der Lippen und Augen waren zurückgegangen, die
     wachsbleiche Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. Er konnte im Haus umhergehen, und am Morgen hatte er gesagt, sie könnten
     sich nicht ewig vor der Welt verstecken; er werde Vorbereitungen für die Rückkehr in die Staaten treffen. Tess verließ schweren
     Herzens das Haus. Nun würde sie ihn mit ihrem Fund konfrontieren müssen.
    Den Rest des Morgens hatte sie in Marathounda verbracht, an der Stelle, wo sie die Schatulle mit dem Kodex gefunden hatte.
     Gerade wollte sie zum Haus des Arztes zurückkehren, als sie den beiden Frauen begegnete, die ihr Essen und Kleidung gebracht
     hatten. Sie hatten von Reillys Genesung erfahren, umarmten sie herzlich und drückten gestikulierend ihre tiefe Erleichterung
     aus. Ihre Männer gaben Tess die Hand, strahlten sie an und gingen weiter, wobei sie ihr freudig zuwinkten.
    Gedankenverloren stand sie auf der Straße. In diesem Moment entschied sie sich. Die Erkenntnis, die seit Tagen in ihremInneren reifte, ein verwirrendes Gefühl, das ihren gewohnten Zynismus verdrängte und das sie sich bis jetzt nicht hatte eingestehen
     wollen, war zu einem Abschluss gelangt.
    Ich kann es ihnen nicht antun.
    Nicht ihnen, nicht den Millionen, die waren wie sie. Der Gedanke war in ihr gewachsen, seit sie den Kodex entdeckt hatte.
     Alle Menschen, denen sie in den vergangenen Tagen begegnet war, hatten sich rückhaltlos freundlich und freigebig gezeigt.
     Um sie ging es. Um sie und zahllose andere in aller Welt.
    Es könnte ihr Leben zerstören.
    Ihr wurde ganz flau. Wenn die Kirche Menschen hier und heute dazu bringen konnte, derart selbstlos zu handeln, konnte nicht
     alles an ihr falsch sein. Sie war es wert, dass man sie beschützte. Was machte es schon, wenn sie auf einer Geschichte aufbaute,
     die die Wahrheit beschönigte? War eine so phänomenale Inspirationsquelle überhaupt denkbar, wenn man nicht die Grenzen der
     realen Welt überschritt?
    Als sie dort stand und den beiden Ehepaaren nachsah, konnte sie nicht glauben, dass sie etwas anderes auch nur erwogen hatte.
    Natürlich würde sie es nicht tun.
    Andererseits wusste sie auch, dass sie Reilly ihren Fund nicht länger
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