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Science Fiction Almanach 1982

Science Fiction Almanach 1982

Titel: Science Fiction Almanach 1982
Autoren: H. J. Alpers
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kluges Gesicht vortrefflich in unsern Kreis hineingepaßt; er schien wie ein junger Mann in der Mitte der Dreißig und man mußte sich immer erst wieder besinnen, daß ein Mensch von reichlich anderthalb Jahrhunderten einem gegenüber saß.
    Das Gespräch, das anfangs gestockt hatte, setzte wieder ein, aber ich sah den Gesichtern, namentlich der Damen, an, daß das Interesse an gleichgültigen Dingen in diesen Minuten überwältigt wurde von der großen seelischen Spannung, mit der wir alle die Erscheinung unseres Gastes aufnahmen. Trotzdem scheute sich ein jeder von uns, ihn durch neugierige Fragen zu belästigen.
    Wie dankbar überrascht waren wir daher, als der rätselhafte Fremde plötzlich sagte:
    „Darf ich den verehrten Anwesenden ein Weniges aus meinem Leben erzählen, so gut ich es vermag? – Ich fühle, daß ich hier unter teilnehmenden Herzen weile, die kein Gelüst der bloßen Neugier treibt, die ein leidvolles Menschengeschick in edler Sympathie zu verstehen suchen werden –“
    „Wir wagten nicht, Sie darum zu bitten“, sagte der Herr Oberlehrer verbindlich – „aber das darf ich Ihnen im Namen unserer kleinen Tafelrunde versichern, daß wir Ihnen aufrichtige, herzliche, Ihrer würdige Teilnahme entgegenbringen.“
    Und seine Tochter setzte hinzu:
    „Wird es Sie auch nicht zu sehr aufregen, unsertwegen die Vergangenheit wieder zurückzurufen?“
    „Nein, Demoiselle“, sagte er freundlich lächelnd, „ich hoffe vielmehr, daß ich durch meine Erzählung mir für mein eigenes Wesen ein weniges von der Klarheit und Ruhe zurückgewinne, die mir in diesen Tagen der Verwirrung fast gänzlich verloren ging – nach dem bewährten receptum unseres alten Königsberger Poeten Simon Dach:
     
    „Die Red’ ist uns gegeben,
    Damit wir nicht allein
    Für uns nur sollen leben
    Und fern von Menschen sein –
     
    Der kann sein Leid vergessen,
    Der es von Herzen sagt;
    Der muß sich selbst auffressen,
    Der insgeheim sich nagt.“
     
    Und er begann:
    „Ich möchte Ihnen den letzten Tag meines früheren Daseins schildern!
    Am 16. September 1770 war ich in einer Gesellschaft tüchtiger Männer und liebenswürdiger Frauen. Wir hatten miteinander einen kleinen Ausflug im Landauer unternommen in die Environs des Tegeler Sees. Ich könnte Ihnen ja all die Namen der Teilnehmer nennen – aber was sollen Ihnen die leeren Namen? Ach, soviel hat mir der gezwungene Aufenthalt unter ärztlicher Bewachung in dieser Charite genannten Anstalt doch genützt, daß ich weiß mit trauriger Sicherheit, daß ich der einzige bin, der von ihnen allen noch lebt, der aus meiner Zeit noch lebt, körperlich zwar jung und rüstig, wie dereinstens, aber doch ein Vergessener, Übriggebliebener, vom harten Schicksal Verbannter, ein Schemen, der keine Ruhe gefunden hat –“
    Er kämpfte einen Augenblick mit seiner Bewegung, dann fuhr er leiser fort:
    „Und – auch sie ist nicht mehr – sie, um derentwillen ich an jenem Landausfluge teilnahm – Demoiselle Justine! – O, daß dieser süße Mund verstummt, diese himmlischen Augen sich auf ewig für mich geschlossen haben – glauben Sie mir, das ist das Schwerste, Unbegreiflichste unter all den Rätseln, die mich jetzt umgeben.“
    Er zog eine altmodische, dickleibige Brieftasche hervor und entnahm ihr ein kleines ovales Emaillebildnis. Wehmütig versenkte er sich ein Weilchen in die geliebten Züge – dann reichte er es der Tochter des Herrn Oberlehrers. Diese betrachtete das Miniaturporträt und wollte es ihm dann dankend zurückgeben; durch eine Handbewegung aber bat er sie, es weiterzureichen.
    Und so sahen wir das liebliche Mädchenbild, das vor mehr als dreizehn Jahrzehnten seine Hoffnung und sein Glück verkörpert hatte. Die Farben des Bildchens waren noch so frisch und leuchtend, als sei es eben erst aus der Hand des Künstlers hervorgegangen: Das hochaufgetürmte lichtbraune Haar, die schöne, hohe elfenbeinweiße Stirn, die feingeschwungenen Brauen über den strahlenden dunklen Augen, das zierliche Naschen und die roten Lippen, schön geformt, „wie Amors Bogen“, das Grübchen im Kinn und den schlanken Hals, der sich schlank und weiß wie eine Lilie aus dem bunten, faltigen Gewände erhob.
    „Wie schön sie ist!“ rief die junge Frau Dr. Mathieu impulsiv aus, hingerissen von dem Liebreiz des Bildes.
    „Ja“, sagte er mit einem glücklichen Aufleuchten seiner sprechenden Augen; – „aber ihr Herz war noch schöner, und mir gehörte dies Juwel, um das mich alle
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