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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters
Autoren: Sergej Lochthofen
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Rosmarie erfuhr es nie. Und egal, was sie zur Aufklärung auch sagte, die Frauen blieben bei ihrer Meinung.
    Rosmarie wusste, das würde sie nicht lange aushalten, sie musste hier raus. Sie schrieb an alle Behörden, Bittbriefe bis zu Walter Ulbricht. Die meisten landeten wieder im Werk, genau bei jenen Leuten, die sie hierher gesteckt hatten. Zeit verging.5 Uhr 45 begann die erste Schicht, Punkt 14 Uhr die zweite. Das Grässlichste war die Nachtschicht. Wenn sie morgens nach 6 übermüdet in ihrem Zimmerchen ankam, konnte sie oft nicht einmal mehr dem Kleinen die Flasche halten. Eines Tages hieß es, ein neuer Chef sei da, er habe wissen lassen: Jeder kann zu ihm kommen, jeder hat Anspruch darauf, gehört zu werden.
    Jetzt saß sie da und wischte sich die Tränen ab.
    «Mädchen, das mit der Wahl, das war nicht klug.»
    Was blieb ihr anderes übrig, als zu nicken? Ja, das war doof. Und hätte sie geahnt, was kommt, dann … Aber nun war es passiert.
    «Wie alt ist Ihr Kind? Ein halbes Jahr? Das ist wirklich sehr klein. Sehr.»
    Lorenz schaute über sie hinweg aus dem Fenster. Er dachte an seine Tochter. Larissa war auch ein halbes Jahr … Sicher, hier hatte niemand vor, das Kind umzubringen, aber sollte das der ganze Fortschritt sein?
    «Ich glaube, wir können da etwas tun.»
    Er griff zum Telefon und bestellte den Kaderchef, den Arbeitsdirektor und den FDJ-Sekretär in sein Kabinett.
    «Sofort?», hörte Rosmarie.
    «Ja, sofort!»
    Wenige Minuten später standen sie da. Dem Kaderleiter war anzusehen, dass er sie erkannte, sie sah auch seine Feindseligkeit.
    «Kennen Sie die Frau?»
    «Ja.»
    «Kennen Sie ihre Geschichte?»
    «Ja», antwortete er, «aber, Genosse Lochthofen, ich würde dazu gern etwas sagen.»
    «Das ist gut, tun Sie es.»
    «Nur wenn die Kollegin den Raum verlässt.»
    Einen Augenblick herrschte absolute Stille, dann hätte es Rosmarie nicht gewundert, wenn die Decke eingestürzt wäre. Der Werkleiter, gerade noch ruhig und beherrscht, sprang aus seinem Sessel und schien zu explodieren:
    «Was sagen Sie da? Sie soll rausgehen? Rausgehen, damit was? Damit wir hier über sie zu Gericht sitzen? Ist das Ihr Verständnis von Kaderarbeit? Ist das der Umgang mit den Menschen, wie ihn die Partei von Ihnen erwartet? Überall suchen wir qualifizierte Mitarbeiter, karren die Leute aus dem Bezirk herbei, damit die Produktion läuft, und Sie verschleudern Arbeitskapital.»
    Er machte eine Pause und schaute alle drei an, die standen stramm wie auf dem Exerzierplatz.
    «Das ist offene Vergeudung des Volksvermögens! In solchen Fragen gibt es vor den Arbeitern keine Geheimnisse. Entweder Sie haben etwas Fundiertes vorzutragen, dann kann sie es auch hören. Haben Sie das? Aha, haben Sie nicht! Dann schweigen Sie.»
    Der Kaderchef schien zu schrumpfen. Das, was er gerade erlebte, passte nicht zu seinen Erfahrungen. Nie wäre er auf die Idee gekommen, dem ausdrücklichen Wunsch der Genossen in der Uhlandstraße, dort, wo «die Firma» residierte, zu widersprechen. Gewiss, er hatte sich wie die anderen Direktoren an einige Sonderbarkeiten des Neuen gewöhnt. Dessen merkwürdige Vorliebe für die Arbeiter, die zugegeben so oder ähnlich in all den großen Reden der Partei stand, aber das meinte ja nie im Leben wirklich einer so. Zuerst glaubten sie, na warte, Bürschlein, wenn du das erste Mal ordentlich auf die Fresse gefallen bist, der Plan nicht erfüllt wird und die lieben Arbeiter auch keinerlei Lust verspüren, ihn zu erfüllen, dann werden dir schon die schönen Reden von deiner geliebten Arbeiterklasse vergehen. Dumm war nur, der Plan wurde erfüllt. Aber dass jetzt auch die «Politischen» Morgenluft witterten, so konnten die Parteibeschlüsse nicht gemeint sein.
    «Ich stelle fest, niemand hat zur Sache noch etwas zu sagen», unterbrach der Werkleiter den inneren Monolog des Kaderchefs.
    «Dann machen wir es kurz: Am Montagmorgen kommt die Kollegin zu Ihnen, Sie kümmern sich persönlich um einen ihrer Qualifikation angemessenen Arbeitsplatz. Denken Sie daran, sie hat ein kleines Kind zu versorgen. Keine Schichtarbeit oder irgendwelche anderen Geschichten. Haben Sie mich verstanden?! Gibt es noch Fragen? Nein?»
    Er schaute entspannt, als hätte es den Ausbruch vor wenigen Minuten nie gegeben.
    «Ich bedanke mich, meine Herren.»
    Rosmarie ließ den Männern den Vortritt, drehte sich nochmals um und stammelte ein Dankeschön. Als sie auf dem Flur stand, lehnte sie sich an die Wand und holte erst mal
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