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Schwarzer Regen

Schwarzer Regen

Titel: Schwarzer Regen
Autoren: Karl Olsberg
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legte eine Hand auf die Schulter ihrer Freundin, wie um sie zu beruhigen.
    Lennard griff nach dem Richtmikrofon, das neben ihm auf der Heizung lag, schaltete es ein, steckte sich die winzigen Hörer in die Ohrmuscheln und öffnete das Fenster einen Spalt weit. Es dauerte einen Moment, bis er das stabförmige Mikrofon so ausgerichtet hatte, dass er über die Hintergrundgeräusche hinweg verstehen konnte, was die beiden sagten.
    »… schon gemacht. Aber da ist … sie auch nicht.« Das war Nora Lindens Stimme. Ihre Worte wurden von kurzen Aussetzern unterbrochen, Schluchzer wahrscheinlich. »Ich hab … wirklich schon überall … rumgefragt.«
    »Was ist mit deinem Ex?«, fragte Fabienne Berger. Selbst durch das stark verzerrende Mikrofon klang ihre Stimme weich und melodisch. Eine Sängerin und Tänzerin hätte sie sein sollen, anstatt Blumen zu verkaufen.
    »Daran hab ich natürlich auch sofort gedacht. Ich habe mehrmals versucht, ihn anzurufen, aber er geht nicht ran. Ich hab ihm auf die Mailbox gesprochen, aber du kennst ihn ja. Er ist so ein unzuverlässiger Mistkerl! Er hat Yvi schon mal unangemeldet von der Schule abgeholt. Damals hab ich mir auch schreckliche Sorgen gemacht.«
    »Na siehst du! Bestimmt ist sie bei ihm, und die beiden sind zu Hagenbeck gegangen oder so.«
    »Aber was ist, wenn nicht?« Nora Linden brach in Tränen aus. »Wenn es … wenn sie nun …« Sie brachte es nicht über sich weiterzusprechen.
    Fabienne Berger nahm ihre Freundin in den Arm. »Warst du schon bei der Polizei?«
    Es dauerte einen Moment, bis Linden antwortete. »Ja. |22| Sie haben gesagt, ich soll erst mal überall rumfragen.« Sie schluchzte. »Sie sagen, über neunzig Prozent … der verschwundenen Kinder tauchen … tauchen nach ein paar Stunden von selbst wieder auf. Vor heute Abend können sie nichts machen, hat der Beamte gesagt. Oh, Fabienne, ich weiß einfach nicht mehr, was ich machen soll!«
    Berger hob den Kopf und ließ den Blick über den Wohnblock schweifen. Für den Bruchteil einer Sekunde schien sich ihr Blick mit Lennards zu kreuzen, und obwohl er wusste, dass sie ihn hinter seinem Vorhang nicht sehen konnte, zuckte er zusammen. »Komm, wir gehen jetzt erst mal rein, und dann überlegen wir noch mal systematisch, wo sie sein könnte.«
    Die beiden Frauen gingen Arm in Arm zurück ins Haus. Der kleine Junge folgte ihnen mit verunsichertem Blick. Lennard sah ihnen nach, bis sie aus seinem Blickfeld verschwunden waren. Dann legte er Fernglas und Richtmikrofon auf ihren gewohnten Platz auf der Fensterbank und ging zu dem kleinen Schreibtisch im Schlafzimmer.
    Die dunklen Vorhänge waren wie immer zugezogen, das Bett unordentlich. Schmutzige Wäsche lag vor dem Schrank auf dem Boden. Er hatte ein leicht schlechtes Gewissen beim Anblick der Unordnung, obwohl es niemanden gab, der ihn dafür hätte kritisieren können. Er setzte sich an den Schreibtisch und warf einen Blick auf die über hundert Farbausdrucke, die fast die ganze Wand bedeckten: Bilder von seiner Digitalkamera in unterschiedlichen Größen. Sie waren aus verschiedenen Perspektiven aufgenommen – von oben, von der Seite, von hinten oder von schräg unten; einige mit dem Teleobjektiv aus so großer Entfernung, dass die Bilder seltsam flach wirkten. Sie zeigten Menschen beim Herausbringen des Mülls, beim Gassi gehen mit dem Hund oder schwer beladen mit Einkaufstüten. Manche Bilder waren durch geöffnete Wohnungsfenster hindurch aufgenommen |23| worden und zeigten die Bewohner beim Kochen, beim Bügeln, beim Staubsaugen oder vor dem Fernseher. Keiner der Fotografierten lächelte in die Kamera.
    Da war die alte Zengeler beim Kreuzworträtsellösen, den Bleistift in den Mundwinkel gedrückt, die Augenbrauen in Konzentration herabgezogen. Dann die junge Frau mit dem unaussprechlichen Namen aus Portugal, die im Erdgeschoss wohnte und sich ihr Studium als Callgirl finanzierte. Sie trug auf dem Bild einen billigen Kunstpelz. Ihre blondierten Haare bildeten einen unnatürlichen Kontrast zu ihrer dunklen Haut.
    Auf einem Foto dicht neben dem Türrahmen sah Herr Herder aus dem Fenster seiner Dachgeschosswohnung im neunten Stock. Das war alles, was er den ganzen Tag tat. Er hatte seine Frau und zwei Kinder bei einem Autounfall verloren. Er war selbst gefahren und trug die Schuld an dem Unfall, das hatte er Lennard mit tonloser Stimme erzählt, im Aufzug, eine Tüte mit leeren Flaschen für den Glascontainer in der Hand. Er erzählte es jedem; es waren die
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