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Schwaben-Messe

Schwaben-Messe

Titel: Schwaben-Messe
Autoren: Klaus Wanninger
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Reisler-Sprösslingen, keine Eintrittserlaubnis in die übrigen Räume.
    Über Monate, ja sogar Jahre hinweg, war den drei Pflegejungen keine ausreichende Ernährung zugekommen, unbemerkt vom Jugendamt, den Verwandten, Bekannten und Nachbarn der so gut beleumundeten Familie.
    Dreimal täglich Wasser und trockenes Brot als einzige Mahlzeit, kein Käse, keine Wurst, keine Süßigkeiten, nicht einmal Getränke, nichts. Alexander, Alois, Andreas, drei Pflegekinder, fünf, sechs, neun Jahre alt, 7,2 Kilogramm, zehn Kilogramm, 11,8 Kilogramm leicht. Alle drei abgemagert bis aufs Skelett, erlöst von ihrem schrecklichen Leben erst in dem Moment, als der Notarzt den Tod des verhungerten Bruders diagnostizierte.
    Baden-Württemberg, eine der materiell reichsten Regionen der Welt. Weinstadt-Beutelsbach im Remstal, mitten im Herzen Schwabens, vor den Toren Stuttgarts, das Tal der Reben, der grünen Hänge, teurer Villen, breiter Straßen, der Reichsten unter den Reichen Schwabens. Ausgerechnet hier, in dieser Insel der scheinbar Glückseligen, so viel menschliches Elend.
    Die Familie, in der es geschah, keine Irren, Verrückten, Gestörten, nein, eine völlig normale, unauffällige, gutbürgerliche Frau, ein ebensowenig vom Mittelmaß abweichender Mann. Keine Gewalttäter, Vergewaltiger, Berufskriminelle – Menschen wie du und ich.
    Neundorf betrachtete Elfriede Buschmann, deren von Wissbegier gezeichnetes Gesicht sie erwartungsvoll anstarrte. Sie hatte keine Lust, die Neugier der Alten zu befriedigen, ihrem Überwachungswahn länger dienstbar zu sein.
    »Schönen Tag dann noch,« sagte sie, winkte ihrem Kollegen. Gemeinsam verließen sie die Wohnung, stiegen langsam die Stufen hinab. Elfriede Buschmann gaffte ihnen mit offenem Mund nach.
    »Kannst du mir sagen, in welchem Land wir leben?«, fragte Steffen Braig.
    Menschen, die krampfhaft darauf achten, dass ihr Eigentum nicht angetastet wird. Gelangweilte Reiche, die aus purem Spaß andere ermorden und vergewaltigen. Eltern, die ein Kind aus reiner Profitgier verhungern lassen. Und über all dem eine Landesregierung, die das Wachstum materieller Besitztümer in jeder Form als allein seligmachende Droge vergöttert und zugunsten privater Bereicherung und Vorteile unzählige andere um ihre Heimat und ihre Arbeit zu bringen bereit ist.
    Standen all diese Phänomene nur isoliert für sich oder hatten sie nicht – vielleicht sogar sehr viel – miteinander zu tun? So wie die beiden Seiten ein und derselben Medaille?
    »Hast du geglaubt, Schwaben sei eine Insel der Seligen?«, fragte Neundorf.
    »Vielleicht habe ich die Hoffnung darauf immer noch nicht ganz aufgegeben«, bekannte Braig.
    »Dann bist du wirklich ein naiver Träumer«, erwiderte sie.
    Gemeinsam stiegen sie vollends die Stufen hinab.
    »Katrin, bitte!« flüsterte Steffen Braig, »eine Frage hab ich noch! Katrin, was, bitte, ist Mord???«
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