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Schwaben-Messe

Schwaben-Messe

Titel: Schwaben-Messe
Autoren: Klaus Wanninger
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eingezogenem Kopf vor das Glas, zeigte nach unten. »In diesem Gebüsch versteckt er sich immer. Der Kerl ist clever, unglaublich raffiniert. Er weiß genau, was er zu tun hat. Zuerst schielt er vorsichtig die Häuserwände hoch, kontrolliert jede Wohnung, ob er nicht von irgendjemand beobachtet wird. Fenster auf Fenster tastet er mit seinen Augen ab, ich habe es genau gesehen. Erst wenn er sich vollkommen sicher ist, kriecht er auf allen Vieren unter den Blättern und Zweigen durch und schleicht sich langsam an die Autos heran. Und dann …«
    »… macht er sich an den Türen zu schaffen?«, ergänzte Braig. Elfriede Buschmann zögerte. »Mhm, nicht direkt.«
    »Das heißt?«
    »Bisher kam er nicht dazu, wurde jedesmal daran gehindert. Der Junge ist so raffiniert, dass er immer blitzschnell verschwand, bevor ihn jemand erwischte.«
    »Beobachteten Sie, wie er in eine Wohnung eindrang?«
    »In eine Wohnung?« Elfriede Buschmann schüttelte energisch ihren Kopf. »Um Gottes willen, nein.«
    »Woher wissen Sie, dass er zu der rumänischen Verbrecherbande gehört?«
    »Aber das ist doch klar!« ereiferte sich die Frau. »Es kam im Fernsehen, in der Zeitung, und dann bat sogar unser Herr Ministerpräsident darum, gerade jetzt in den Ferien auf das Eigentum der Nachbarn zu achten. Ganz Deutschland ist voll mit ausländischem Gesindel, das weiß heute doch jeder!«
    »Sonst fiel Ihnen nichts auf?«, fragte Neundorf. »Ich meine, im Zusammenhang mit dem Jungen?«
    Elfriede Buschmann betrachtete die junge Kommissarin, überlegte. »Aber ich habe doch alles erzählt, was ich weiß. Er versteckt sich in den Büschen, versucht, an die Autos zu gelangen. Zum Glück habe ich ihn immer im Blick, ohne dass er mich bisher bemerkte. Bis auf ein Mal …«
    »Er hat Sie entdeckt?«
    Verlegen blickte die Frau zur Seite. »Ja, also, – leider! Ich war wohl zu unvorsichtig in dem Moment.« Ihre Antwort kam nur sehr zögernd. »Er war verschwunden, und als ich ihn endlich wieder entdeckte, machte er sich am Mülleimer zu schaffen. In diesem Moment schaute er hoch.«
    »Am Mülleimer? Was machte er dort?«
    »Er, glaube ich, er …« Elfriede Buschmann stotterte.
    »Ja?«
    »Es sah so aus, als suche er nach Überresten von Essen. Er wühlte im Dreck und dann …«
    Braig und Neundorf warteten, bis die Frau ihren Satz vollendete.
    »… dann stopfte er sich tatsächlich von dem Dreck in den Mund.«
    »Sie bemerkten das also auch?«
    »Wieso?«, fragte Elfriede Buschmann, »machte er das öfters?«
    Neundorf nickte. »Vier verschiedene Nachbarn haben den Jungen dabei beobachtet, wie er im Müll wühlte und von dem Abfall aß. Aber keiner hielt es für notwendig, die Eltern nach dieser seltsamen Angewohnheit zu fragen oder sich das Kind genauer anzusehen. Stattdessen alarmierten sie die Polizei. Aus Angst um ihr Eigentum.«
    »Aber …«
    »Ein Kind ist verhungert«, erklärte Neundorf, sah das ungläubige Gesicht der Frau. »Nicht in Afrika oder in Bangladesh oder in einem anderen Elendsgebiet unserer Welt. Nein, hier im steinreichen Remstal, keine fünfzehn Kilometer vor den Toren Stuttgarts. In Ihrem Haus.«
    Sie schaute, – mit vor Überraschung offenem Mund –, schwieg, wartete auf eine Erklärung.
    Neundorf ließ sie zappeln. »Der Junge hatte Hunger« sagte sie schließlich, »aber kein Mensch erbarmte sich, obwohl ihn so viele beobachteten. Heute Nacht ist er gestorben. Verhungert. Hier, in Ihrem Haus.«
    »Verhungert?«, fragte Elfriede Buschmann, die vor Neugierde kaum noch an sich halten konnte. »Aber wieso denn?«
    Neundorf hatte die ersten Ermittlungsergebnisse der Kollegen gelesen. Die Reislers galten als Musterfamilie. Der Vater, Klaus Reisler, war Ende dreißig, von Beruf Heizungsbauer mit Abitur, dann Zeitsoldat. Zur Zeit studierte er Sozialpädagogik. Seine Frau Ulrike war sechs Jahre jünger, sie hatte eine Ausbildung als Kinderpflegerin genossen. Zu ihren eigenen Kindern, acht Monate, zehn und elf Jahre alt, kamen drei vom Jugendamt des Kreises vermittelte Jungen, fünf, sechs und neun Jahre, für deren Pflege und Ernährung die Familie jeden Monat etwa 3.300 Mark staatliche Zuwendungen kassierte. Die Sprösslinge der Reislers lebten in Saus und Braus, verfügten über ein Pferd, ein Pony, Hund und Katze, den eigenen Computer, Stereoanlage, ein eigenes Zimmer. Die Pflegekinder dagegen vegetierten in einem kalten, durch herabgelassene Rollläden ständig verdunkelten Raum ohne Licht, hatten keinen Umgang mit den
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