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Schwaben-Herbst

Schwaben-Herbst

Titel: Schwaben-Herbst
Autoren: Klaus Wanninger
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Mutter«, erklärte die Frau.
    »Meine Mutter?« Sie benötigte ein paar Sekunden, vollends aus dem Halbschlaf aufzutauchen, vergewisserte sich nochmals, richtig verstanden zu haben. »Sie fragen nach meiner Mutter?«
    »Ich spreche mit Frau Neundorf, ja?«
    »Ja, um was geht es?« Kein Mord, keine Massenkarambolage auf irgendeiner Straße, kein Totschlag?
    »Ihre Mutter hatte einen Unfall. Wir mussten den Notarzt rufen. Sie bringen sie gerade ins Krankenhaus.«
    Sie glaubte, nicht richtig zu hören, schaute auf den Wecker. 7.35 Uhr. »Heute Morgen im Heim?«
    »Vor fünfzehn Minuten etwa. Aber nicht bei uns, nein. Ihre Mutter, na ja, Sie wissen doch, wie sie ist …« Die Frau verstummte, überlegte, wie sie ihre Botschaft formulieren sollte. »Sie war bereits unterwegs. Ihr Morgenspaziergang. Ich denke, Sie kennen die Gepflogenheiten Ihrer Mutter.«
    Neundorf seufzte vernehmlich. »Oh ja, die kenne ich, in der Tat.«
    Obwohl sie nach ihrem Oberschenkelhalsbruch im vorigen Jahr nur noch eingeschränkt beweglich war, hatte Johanna Neundorf bei einem gemeinsamen Gespräch mit ihrer Tochter und der Leiterin des Seniorenheims in Großheppach ausdrücklich darauf bestanden, über die Gestaltung ihres Alltags selbst zu entscheiden. »Wenn ich Lust auf eine Zigarette oder eine halbe Flasche Wodka verspüre oder mich mal mit einem netten Herrn in mein Zimmer zurückziehen möchte, ist dies allein meine Sache. Und was das Frische-Luft-Schnappen vor dem Frühstück und nach dem Kaffeetrinken betrifft – das ist mir heilig, sobald ich wieder dazu fähig bin«, hatte sie erklärt, »sonst dürfen Sie auf meine Anwesenheit in diesem Haus verzichten.«
    Ihre Gesprächspartnerin war die Eigenarten bestimmter älterer Damen und Herren offensichtlich gewohnt, hatte auf die Ausführungen der neuen Bewohnerin mit einem freundlichen Lächeln reagiert.
    Sobald sie gesundheitlich wieder dazu fähig war, pflegte Johanna Neundorf nach dem Aufstehen einen kleinen Spaziergang zu unternehmen, um sich anschließend mit offenkundig zufriedenem Gemüt und hungrigem Magen zum Frühstückstisch zu begeben. Und jetzt war ihr bei einer dieser frühmorgendlichen Exkursionen etwas zugestoßen.
    »Was genau ist passiert?«, fragte Neundorf. »Sie wissen Bescheid?«
    Die Frau am anderen Ende zögerte nicht lange mit ihrer Antwort. »Ja, ein junges Ehepaar hat alles beobachtet. Ihre Mutter war dabei, die Straße zu überqueren. An der Bushaltestelle, gleich neben unserem Haus. Sie trägt keine Schuld. Ein Auto raste auf sie zu. Der Fahrer bremste viel zu spät, sonst wäre ihr nichts passiert. Die jungen Leute haben es genau verfolgt.«
    »Das Auto hat sie erfasst?«
    »Zum Glück nur an der Seite. Aber sie wurde auf den Boden geschleudert.«
    »Und? Was sagt der Arzt? Sie haben mit ihm gesprochen?«
    »Ja, das schon. Er wollte sich allerdings noch nicht hundert Prozent festlegen, aber …«
    »Aber?«
    »Oberschenkelhalsbruch ist nicht auszuschließen.«
    »Oh nein!« Sie wickelte sich aus der Decke, richtete sich auf. »Nicht schon wieder!« Ihr war sofort klar, was das bedeutete.
    »Aber bitte, warten Sie noch die Untersuchungsergebnisse ab«, versuchte die Frau sie zu trösten, »vielleicht hat Ihre Mutter Glück und es ist doch nicht so schlimm.«
    Neundorf ließ ein bitteres Lachen hören, sah die Augen ihres Lebensgefährten auf sich gerichtet. »In welches Krankenhaus wird sie gebracht?«
    »Nach Waiblingen«, erklärte die Frau, »sie wollen keine Zeit verlieren.«
    »Danke für Ihren Anruf. Ich werde mich darum kümmern.«
    Sie hatten sich sofort angezogen, waren keine zwanzig Minuten später aufgebrochen. Neundorf hatte versucht, Thomas Weiss davon abzuhalten, sie zu begleiten, weil sie um seine berufliche Verpflichtung wusste, an diesem Samstag an einem ganztägigen Seminar im Pädagogisch-Theologischen Zentrum im Stuttgarter Vorort Birkach teilzunehmen, das dem Leben der Geschwister Scholl gewidmet war. Weiss arbeitete als Journalist und war damit beschäftigt, eine Serie über außergewöhnliche Schwaben zu erstellen, als deren wichtigste Vertreter er in langen Diskussionen mit Neundorf, Freunden und Kollegen, neben Georg Elser auch Sophie und Hans Scholl erkoren hatte. Weiss hatte dennoch darauf bestanden, sie zu begleiten und das Risiko in Kauf zu nehmen, verspätet zu seinem Seminar zu stoßen. Sie waren aus dem Haus geeilt, hatten versucht, ihre Mutter und die zuständigen Ärzte im Krankenhaus zu erreichen.
    »Eine Frau Neundorf wurde
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