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Schuldig

Schuldig

Titel: Schuldig
Autoren: Jodi Picoult
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lügen«, antwortete Zephyr.
    Jeder Teenager wusste, dass das stimmte. Erwachsenwerden hieß nichts anderes, als herauszufinden, welche Türen einem noch nicht vor der Nase zugeknallt worden waren. Jahrelang hatten Trixies Eltern ihr erzählt, sie könne alles werden, alles haben, alles erreichen. Deshalb wollte sie möglichst schnell erwachsen werden – bis sie in die Pubertät kam und plötzlich vor einer großen, dicken Mauer aus Realität stand. Sie begriff, dass sie nicht alles haben konnte, was sie wollte. Man wurde nicht hübsch oder klug oder beliebt, bloß weil man sich das wünschte. Man konnte sein Schicksal nicht steuern. Man war zu sehr damit beschäftigt, dazuzugehören. Allein in diesem Moment, während sie hier stand, waren Millionen Eltern dabei, ihren Kindern eine Anleitung zum Unglücklichsein mitzugeben.
    Zephyr starrte über das Geländer. »Ich hab diese Woche jetzt schon das dritte Mal Englisch blaugemacht.«
    In Französisch verpasste Trixie den Test über den Subjonctif . Anscheinend hatten auch Verben gewisse Stimmungen: Sie wurden ganz anders konjugiert, wenn sie nach Ausdrücken des Verlangens, Zweifelns, Wünschens und der persönlichen Meinung standen. Gestern Abend hatte sie die entsprechenden Formulierungen auswendig gelernt. Es ist unsicher, ob. Es ist nicht klar, dass. Es scheint, dass. Es könnte sein, dass. Obwohl. Ganz gleich was. Ohne.
    Sie brauchte keine blöde leçon , um etwas zu lernen, das sie schon seit Jahren wusste: Wenn es um etwas Negatives oder Unsicheres ging, musste man sich an gewisse Regeln halten.

    Am liebsten hätte Daniel nur noch Schurken gezeichnet.
    Mit Helden war einfach nicht so viel anzufangen. Sie waren unweigerlich mit bestimmten Merkmalen ausgestattet: kantiger Wangenpartie, unnatürlich kräftigen Waden, makellosen Zähnen. Sie waren einen halben Kopf größer als der Durchschnitt. Es gab erstaunliche anatomische Phänomene, raffinierte Muskelspiele. Sie trugen alberne kniehohe Stiefel, in denen sich niemand, der keine übermenschlichen Kräfte besaß, würde erwischen lassen wollen.
    Der herkömmliche Bösewicht dagegen konnte ein Gesicht wie eine Zwiebel haben, wie ein Amboss, ein Pfannkuchen. Die Augen konnten hervorquellen oder zwischen tiefen Hautfalten liegen. Sein Körper war fleischig oder ausgezehrt, behaart oder gummiartig oder schuppig wie bei einer Echse. Er konnte Blitze schleudern, Feuer werfen, Berge verschlingen. Bei einem Schurken konnte man seiner Kreativität freien Lauf lassen.
    Das Problem war nur, die beiden gehörten zusammen. Es konnte keinen Bösewicht geben, wenn ihm nicht ein Guter gegenüberstand und Maßstäbe setzte. Und es konnte keinen Helden geben, wenn nicht ein Schurke auftauchte und zeigte, wie weit er vom rechten Wege abweichen würde.
    Heute saß Daniel über seinen Zeichentisch gebeugt und trödelte. Er wirbelte seinen Drehbleistift durch die Luft. Er knetete den Radiergummi in der Hand. Er hatte Riesenprobleme damit, seine Hauptfigur in einen Falken zu verwandeln. Die Schwingen hatte er ganz gut hinbekommen, aber irgendwie schaffte er es nicht, das Gesicht hinter den hellen Augen und dem Schnabel menschlich wirken zu lassen.
    Daniel war Comiczeichner. Während Laura ihre akademische Karriere vorantrieb, bis sie schließlich eine Professur am Monroe College ergatterte, hatte er zu Hause gearbeitet, Trixie zu seinen Füßen, und für den Verlag DC Comics Filler-Seiten gezeichnet. Das Konkurrenzhaus Marvel wurde auf ihn aufmerksam und bot ihm mehrfach an, nach New York zu kommen und an den Ultimate X-Men mitzuarbeiten, doch Daniel war die Familie wichtiger als die Karriere. Er erledigte Grafikarbeiten, um die Hypothek abzuzahlen – Logos und Illustrationen für Firmenrundschreiben. Doch letztes Jahr, kurz vor seinem vierzigsten Geburtstag, hatte er von Marvel den Auftrag bekommen, ein eigenes Projekt zu entwickeln.
    Ãœber seinem Arbeitsplatz hing ein Bild von Trixie – nicht bloß, weil er sie liebte, sondern weil sie ihn zu dem neuen Comicroman Der Zehnte Kreis inspiriert hatte. Trixie und Laura, genauer gesagt. Lauras Begeisterung für Dante hatte praktisch das Grundgerüst für den Plot geliefert. Von Trixie kam der Antrieb. Aber Daniel selbst hatte die Hauptfigur geschaffen – Wildclaw, einen Helden, wie ihn die Comicwelt noch nicht gesehen hatte.
    Normalerweise
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