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SchrottT (German Edition)

SchrottT (German Edition)

Titel: SchrottT (German Edition)
Autoren: Uwe Post
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Lehrer geworden.
    »Danke für die Erläuterung«, sagt Ralfs und meint es anscheinend ernst. Natürlich, denn Humor ist hier ja verboten. »Dann warten wir jetzt auf die Antwort, richtig?«
    »Alternativ kann ich eine Sofortmaßnahme durchführen, denn genau genommen haben wir bereits eine Weile gewartet.«
    »Zwölfter März zweitausendsieben!«, ruft Colin.
    »Sehen Sie?«, fragt der Uniformierte. »Es funktioniert!«
    »Prozessschritt eins, Formular eins Punkt eins, Frage drei. Wo hielten Sie sich am 1. Juli 2022 auf?«
    »Ich …« Colin versucht, sich zu erinnern. Aber das Kribbeln ist unerträglich, schlimmer sogar als die Schmerzen in Gesicht und Organen. Erstaunlich, er wird beizeiten darüber nachdenken müssen, vielleicht in der Kaffeepause. Vielleicht schreibt er sogar ein Lied darüber. Er überlegt, wie es heißen könnte. Sein Unterbewusstsein kontrolliert seine Zunge, und während er den Satz spricht, weiß er, dass er die Faust herbeirufen wird.
    »Mein Bein ist eingeschlafen.«
    Colin fährt heftig zusammen, als ihn etwas Hartes völlig überraschend in den Unterleib trifft.
    »Formular eins Punkt eins, Frage drei. Erste Wiederholung. Wo hielten Sie sich am 1. Juli 2022 auf?«
    »Da war ich … in …« Tonnenschwere Erinnerungen überrollen Colin. Und er weiß, dass das erst der Anfang ist.
        
     

Heidelberg, Sommer 2022
     
    Die eine Videoleinwand hatten sie im Schlosshof aufgebaut, die andere vor dem Tor. Am frühen Nachmittag hatten sie das WM-Spiel zwischen Deutschland und Japan übertragen, live aus Katar. Der Jubel nach dem 2:1-Sieg im Achtelfinale hatte sich in Grenzen gehalten. Eine viel wichtigere Entscheidung stand an.
    »Hier«, sagte Colin. »Hab ich besorgt.« Er hielt zwei Flaschen Rotwein hoch.
    »Wein?« Leo verzog das Gesicht, nahm aber eine Flasche entgegen. »Woher?«
    Colin deutete vage nach hinten. »Verschenken sie da.« Er drehte den Verschluss ab und warf ihn weg.
    »Mmmh.« Auch Leo öffnete seine Flasche. »Bier hatten sie nicht?«
    Colin grinste. »Dinge ändern sich. Salute!«
    »Salute?«
    »Das heißt so viel wie Prost.«
    Leo verzog das Gesicht. »Kriegen wir jetzt Italienisch in der Schule?«
    »Keine Ahnung. Besser als Mathe. Trink einfach.« Colin nahm nur einen vorsichtigen Schluck. Er war erst 15, die Sonne knallte erbarmungslos und er wollte einen klaren Kopf behalten. Zumindest eine Weile noch. Der Wein schmeckte bitter, aber Colin grinste trotzdem. Leo allerdings machte ein Gesicht, als hätte er eine Zitrone inhaliert.
    »Was verziehst du die Fresse? Das ist der Geschmack der Zukunft!«
    »Das steht doch noch gar nicht fest«, brummte Leo und sah auf sein Handy.
    »Aber bald«, sagte Colin und trank.
    »Ich glaub, ich geh nach Hause«, murrte Leo.
    »Dann entgeht dir was.«
    Leo hatte rot gefärbtes Haar, erste Fransen am Kinn, rosa Wangen, ein zerfetztes Shoot-me-Shirt. Er verließ sein Zimmer nur wegen der Schule oder im Notfall. Musste sich um seine Mutter kümmern, die unter Depressionen litt. Ab und zu klaute Leo einige ihrer Pillen und verkaufte sie auf dem Schulhof. Er wäre nicht hier, wenn seine Mutter nicht bei einem Anfall den Fernseher zerdeppert hätte. Im Internet kostete es Geld, sich das Fußballspiel anzusehen, also raus an die frische Luft. An die heiße, stickige Luft, die über dem Neckar stand und alle Gehirne kochte, die nicht schlau genug waren, in den Schatten zu fliehen.
    Verdrossen starrte Leo auf die Leinwand. Jemand hatte den Ton leise gedreht, damit man das Gebrabbel der Politiker nicht anhören musste, die gerade der Reihe nach erklärten, warum heute ein historischer Tag sei.
    »Wir sind als Erste dran«, beruhigte ihn Colin. »Baden-Württemberg kommt im Alphabet vor den anderen Ländern.«
    »Die kenn ich nicht mal alle.«
    »Die anderen sind auch nicht wichtig. Sind weit weg. Die meisten. Guck, es geht los!«
    Auf der Leinwand lächelten Matthias Müller und Gabi Laikova um die Wette. Die beiden Gastgeber des Abends, wie die Einblendung sie bezeichnete, gingen Hand in Hand zu einer riesigen Deutschlandkarte, die auf den Boden des Studios gemalt war, jedes Bundesland in einer anderen Farbe. In jeder Hauptstadt steckte eine meterlange Plastikstange, an deren oberem Ende je ein Umschlag mit dem Landeswappen befestigt war.
    »… und während Thüringen noch lange an den Fingernägeln kauen muss, kommt für Süddeutschland gleich die Minute der Wahrheit.«
    Der Ton war aufgedreht worden, und die hohe Stimme der ehemaligen
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