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Schreckensbleich

Schreckensbleich

Titel: Schreckensbleich
Autoren: Urban Waite
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tobte, und die Welt um ihn herum wurde milchig und verschwommen. Vorsichtig lehnte er sich auf die Seite und versuchte, seinen Blick zu fokussieren. Schnee fiel und ballte sich auf seinen Wimpern, Hunts rot angestrahltes Profil war das Einzige, was Drake verriet, dass er sich das alles nicht nur eingebildet hatte. »Selbst wenn ich Sie festnehmen wollte«, meinte er, »ich bin nicht in der richtigen Verfassung dafür.«
    Hunt bedachte Drake mit einem verständnislosen Blick, hielt die Waffe in seine Richtung. Drake konnte nicht sagen, was in ihm vorging.
    Er zog sein Handy hervor und scrollte die Nummern hinunter, bis er Driscolls fand. Die Flinte war noch immer auf ihn gerichtet. »Hätten Sie was dagegen?«, bemerkte Drake und deutete auf die Pumpgun.
    Hunt warf die Waffe zu Boden und sah zu, wie Drake auf »Anrufen« drückte und darauf wartete, dass Driscoll sich meldete. Der Deputy ließ sich in den Schnee zurücksinken und sah die Flocken herabrieseln. Driscoll sagte irgendetwas, doch das war für Drake ohne Bedeutung. Er war nicht bereit dafür, obwohl er wusste, dass er es nicht länger aufschieben konnte. Einen Augenblick lang drehte sich sein Kopf, Schwindel überkam ihn. Als er sich wieder nach Hunt umdrehte, sah er nur dessen groben Schatten über das Feld traben, die fernen Lichter hinter der hinkenden Gestalt; schon füllte sich der Pfad, den er eingeschlagen hatte, von neuem hinter ihm. Überall sanfter Schneefall, ein fernes Knirschen von Schritten und dann völlige Stille.
    ***
    Nachdem sie sich ausgeruht hatten, erzählte Hunt ihr von dem Haus. Er sagte, dass es ohnehin keinen Sinn gehabt hätte, dorthin zurückzukehren, dass dieser Ort für sie nicht mehr existierte. Es war alles weg, alles, und dorthin zurückzufahren – und sei es nur, um das Heroin zu holen – hätte geheißen, eine Verhaftung zu riskieren, hätte Zeit im Knast bedeutet, und das konnte er nicht tun.
    Sie saßen auf der kleinen Weide an der Forststraße. Reif lag auf dem Gras, aber kein Schnee. Ein Tag war vergangen, und es war abermals Nacht. Hunt hatte ein Feuer gemacht, gegen die Kälte, und es so gut er konnte mit einer Mauer aus Feldsteinen abgeschirmt, doch es kamen keine Autos vorbei. Anscheinend geschah das auch niemals, und er wusste, dass sie hier sicher sein würden, so wie früher, vor dieser ganzen Geschichte. Und er sagte zu Nora, er wisse, dass sich alles ändern würde, doch er kenne die Zukunft nicht, so wie er es einst geglaubt hatte, und das Einzige, dessen er sich sicher sei, war, dass sie auf sie zukam, und er hoffte, dass sie gut sein würde.
    Aus der Finsternis heraus hörten sie die Geräusche der Pferde auf der Wiese, die harten Hufe, das Schlappen der Zungen, wenn sie den Kopf in den Wassereimer senkten und tranken. Nora und Hunt hatten sich in dem kleinen Bach gewaschen, und Hunt hatte Noras aufgeplatzte Lippe gesäubert und ihr Hemd angehoben, um die blauen Flecken zu betrachten, die der Kofferraum auf ihrem Körper hinterlassen hatte. Lange hatten sie neben dem Bach gestanden, einfach so, halb nackt, zerschlagen, den Körper von Gänsehaut bedeckt, aber glücklich. Hund legte eine Hand auf Noras Bauch und ließ sie sanft zu ihrem Rücken herumgleiten; er umarmte sie und fühlte ihre Wärme dicht an der seinen.
    »Keine Angst«, sagte er. »Wir kriegen das schon auf die Reihe, es wird alles gut.« Da hatte sie geweint, doch er wusste nicht, was er tun sollte, außer sie im Arm zu halten und mit der Hand über ihren Kopf zu streichen, auf ihren Nacken hinab, und dann wieder von vorn zu beginnen.
    Er sagte ihr nicht, dass dies seine Worte von vor zwanzig Jahren waren. Dass er sich genau dasselbe gesagt hatte. Er hatte es gesagt, weil es das war, woran er glaubte. Er hatte es gesagt, weil er wusste, dass er nicht wieder ins Gefängnis gehen konnte, dass er niemals dorthin zurückkehren würde. Und er hatte schon damals gewusst, so wie er es jetzt wusste, dass er dafür sorgen würde, dass irgendetwas passierte und dass für sie alles gut würde. Dass sie vielleicht nicht alles haben würden, aber irgendetwas würden sie haben, und das Einzige, worauf er hoffen konnte, war, dass es etwas Gutes sein würde.
    ***
    Als Drake Driscoll wiedersah, geschah das in seinem Zimmer im Krankenhaus. Drakes Operation hatte fünf Stunden gedauert. Seine Kniescheibe war zum Teil zerschmettert, überall Patellatrümmer, die Muskeln so zerrissen, dass die Ärzte meinten, er würde wahrscheinlich für den Rest seines
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