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Schottische Disteln

Schottische Disteln

Titel: Schottische Disteln
Autoren: Christa Canetta
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entbanden. Wenn ihm etwas geschehen sollte, würden die Werke weiter bestehen, die Zukunft der Arbeiter und der Firma war gesichert, und sein gesamtes Vermögen ging an die neu geschaffene McGregor-Stiftung, deren Gelder zur Hälfte der Firma und zur anderen Hälfte dem Waisenhaus zufließen würden – vorausgesetzt, er hatte keine Erben. Aber so weit mochte Ryan jetzt nicht denken. Er sah die Zukunft vor sich, die sich nicht auf den Tod konzentrierte, sondern auf das Leben. Und obwohl die Papiere noch nicht unterzeichnet waren, verließ Ryan zufrieden und unbemerkt von Leibwächtern und Angestellten die Werft und fuhr in Richtung Inverness davon.
    Er freute sich auf das Wiedersehen mit Andrea. Der Nebel des Vormittags hatte sich aufgelöst, das Land lag im Sonnenschein des Spätnachmittags, und wenn nichts dazwischenkam, war er in zwei Stunden bei der Frau, die er liebte. Ob sie schon wartete? Ob sie, wie er hoffte, an eine gemeinsame Zukunft dachte? Er war ja gestern sehr deutlich geworden, aber er wollte, dass sie endlich wusste, wie es um ihn stand, und dass sie sich damit auseinandersetzen musste.
    Vor der Wirtschaft in Tradespark sah er ihren Wagen. Schön, sie ist zu Hause, dachte er und stellte sein Auto daneben. Die Gaststube war leer. Irgendwo im Hintergrund hörte er Geschirr klappern. Sollte er nach oben gehen und Andrea in ihrem Zimmer aufsuchen? Nein, das wollte er denn doch nicht, es schickte sich nicht, und die Leute im Dorf achteten auf solche Sachen. Er ging zur Tür, die in die Küche führte, und klopfte an. Mabel Jackson, erhitzt und rotgesichtig von den Vorbereitungen für das Abendessen, kam nach vorn.
    »Oh, Mr McGregor, ich habe Sie gar nicht erwartet.«
    »Ich möchte Sie auch nicht stören. Ich wollte zu Miss Steinberg, ist sie oben?«
    »Aber nein, Sir.« Mabel wischte sich die Hände an der Schürze ab und versuchte schnell, das nicht mehr ganz saubere Kleidungsstück abzustreifen. »Nein, sie ist doch heute Morgen mit der Malerin nach Inverness gefahren.«
    »Mit der Malerin?«
    »Ja, die andere Dame, die das zweite Zimmer gemietet hat. Die es gemietet hatte, wollte ich sagen.«
    Ryan schüttelte den Kopf. »Hat sie es nun gemietet oder nicht?«
    »Nein, das ist ja das Eigenartige. Sie wollte vier Wochen bleiben, um hier zu malen, und dann ist sie heute Morgen weggefahren und hat mir oben einen Briefumschlag mit dem Geld für vier Wochen Zimmermiete hingelegt, damit ich keinen Verlust habe. Sie muss nachts gepackt haben, sie hat alle Sachen mitgenommen, Sir.«
    »Und Miss Steinberg hat sie auch mitgenommen?«
    »Ja.«
    »Das verstehe ich nicht. Wie soll Miss Steinberg denn aus Inverness zurückkommen, wenn diese Malerin wer weiß wohin reist.«
    »Ich habe auch schon daran gedacht, aber es gibt ja den Bus, der kommt gegen sieben Uhr hier durch, vielleicht benutzt sie den?«
    »Vielleicht. Wer war denn diese Malerin?«
    »Das weiß ich nicht, Sir.«
    »Das wissen Sie nicht? Sie muss sich doch angemeldet haben.«
    »Das hat sie eben nicht. Jetzt, wo Sie das so sagen, fällt mir auf, dass sie das dauernd verschoben hat.«
    »Was soll das heißen?« Ryan wurde ungeduldig und ärgerlich, und er ließ das auch spüren. »Entweder man meldet sich an, oder man bekommt kein Zimmer.«
    »Zuerst, als ich ihr das Formular geben wollte, sagte sie, sie müsse erst das Zimmer sehen. Dann ist sie wohl eingeschlafen, denn als Sie gestern hier waren, hat sie oben geschlafen. Dann kam sie herunter und hat gegessen, da wollte ich ihr nicht das Formular neben den Teller legen. Und dann war sie auch schon wieder oben, da mochte ich nicht stören, Sir. Und heute Morgen, als ich es ihr zum Frühstück gab, sagte sie, sie müsse sich erst die Hände waschen, und dann waren die Damen plötzlich weg.«
    »Und der Brief mit dem Geld? Da gibt es doch eine Unterschrift.« Die Sache wurde immer mysteriöser und Ryan immer unruhiger.
    »Also, der Brief, da war nur das Geld drin und ein Zettel mit der Bitte, die plötzliche Abreise zu entschuldigen, weil sie in den Süden reisen wollte, wo es wärmer sei, und statt der Unterschrift stand da nur ›Besten Dank‹.«
    »Sie wissen also überhaupt nicht, wer diese Malerin war? Haben Sie denn wenigstens die Autonummer?«
    »Nein, Sir, ich bin doch nicht auf die Idee gekommen, dass sie so plötzlich abreist. Das habe ich erst gemerkt, als ich das Zimmer putzen wollte. Und sie hat ja auch alles bezahlt.«
    »Könnte ich diesen Zettel einmal haben?«
    »Selbstverständlich.«
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