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Schönheit der toten Mädchen

Schönheit der toten Mädchen

Titel: Schönheit der toten Mädchen
Autoren: B Akunin
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ist dein Urteil? Schuldig oder nicht schuldig?«
    Angelina war blaß und zitterte, sie sagte leise, aber fest: »Jetzt soll er reden. Soll er sich rechtfertigen, wenn er kann.«
    Sozki schwieg, lächelte noch immer zerstreut. Es verging eine Minute, eine zweite, und als es schon schien, daß er nichts zu seiner Verteidigung vorbringen werde, bewegte der Angeklagte die Lippen, und es strömte eine Rede – gemessen, wohltönend, voller Würde, als spreche eine höhere Kraft, erfüllt vom Bewußtsein des Rechts und der Wahrheit.
    »Ich muß mich für nichts rechtfertigen, vor niemandem. Ich habe nur einen Richter – den Himmlischen Vater, der mein Sinnen und Trachten kennt. Ich war immer für mich allein. Schon als Kind wußte ich, daß ich etwas Besonderes bin, nicht so wie alle. Mich verzehrte eine maßlose Neugier, ich wollte alles begreifen, alles erleben und erproben in Gottes erstaunlich eingerichteter Welt. Ich habe die Menschen immer geliebt, und sie spürten das und fühlten sich zu mir hingezogen. Aus mir hätte ein großer Heilkundiger werden können, weil ich von Natur aus die Gabe besitze, zu verstehen, woher Schmerz und Leiden kommen, und Verstehen bedeutet Retten, das weiß jeder Mediziner. Eines konnte ich nie ertragen – Häßlichkeit, sie beleidigt in meinen Augen Gottes Werk, und Mißgestalten brachten mich stets zurRaserei. Einmal, während eines solchen Anfalls, konnte ich nicht rechtzeitig innehalten. Eine gräßliche alte Nutte, deren Anblick nach meinem damaligen Verständnis eine Gotteslästerung war, starb unter den Schlägen meines Spazierstocks. Das auslösende Moment meiner Raserei war nicht sadistische Wollust, wie es meine Richter darstellten, nein, es war der heilige Zorn der Seele, die völlig von Schönheit durchtränkt war. Vom Standpunkt der Gesellschaft war es ein gewöhnlicher Unglücksfall, die goldene Jugend hat ja zu allen Zeiten über die Stränge geschlagen. Aber ich gehörte nicht zu den reichen Studenten, die Mäntel mit weißseidenem Futter trugen, und ich wurde zur Abschreckung der anderen exemplarisch bestraft. Als einziger von allen! Jetzt weiß ich, daß Gott mich auserwählt hat, mich als einzigen von allen. Aber mit vierundzwanzig kann man das nicht begreifen. Ich war noch nicht bereit. Es ist nicht zu beschreiben, was für Grauen ein gebildeter, feinsinniger Mensch in einem Militärgefängnis durchmacht. Ich wurde grausamen Erniedrigungen unterworfen, war der rechtloseste Mensch in der ganzen Kaserne. Ich wurde gequält, vergewaltigt, gezwungen, Frauenkleidung zu tragen. Doch ich fühlte, wie in mir allmählich eine gewaltige Kraft reifte, die von Anbeginn meinem Wesen innewohnte, jetzt aber wuchs und der Sonne entgegendrängte wie ein Frühlingshalm aus der Erde. Und eines Tages spürte ich, daß ich bereit war. Die Angst verließ mich und kehrte nie mehr zurück. Ich tötete meinen Hauptpeiniger, tötete ihn vor den Augen aller: Ich ging auf ihn zu, packte ihn mit beiden Händen an den Ohren und zertrümmerte seinen halbgeschorenen Schädel an der Wand. Daraufhin wurde ich in Ketten gelegt und für sieben Monate in eine finstere Strafzelle gesperrt. Meine Kräfte ließen jedoch nicht nach,ich bekam nicht die Schwindsucht. Mit jedem Tag wurde ich stärker, sicherer, meine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit. Alle hatten Angst vor mir – die Aufseher, die Gefängnisleitung, die Mitsträflinge. Sogar die Ratten mieden meine Zelle. Jeden Tag spannte ich meinen Verstand an, und ich fühlte, daß etwas sehr Wichtiges Einlaß in meine Seele finden wollte, aber nicht vermochte. Alles, was mich umgab, war häßlich und abstoßend. Am meisten liebte ich die Schönheit, und die gab es in meiner Welt überhaupt nicht mehr. Um darüber nicht den Verstand zu verlieren, rief ich mir die Universitätsvorlesungen ins Gedächtnis und zeichnete mit einem Span den Bau des menschlichen Körpers auf den Erdboden. Der menschliche Organismus ist vernünftig und harmonisch. Dort fand ich Schönheit, dort fand ich Gott. Mit der Zeit begann Gott zu mir zu sprechen, und ich begriff, daß Er mir meine geheimnisvolle Kraft sandte. Ich floh aus dem Kerker. Meine Kraft und meine Ausdauer waren unerschöpflich. Mich holten auch nicht die Wolfshunde ein, die speziell auf Menschenjagd abgerichtet waren, und mich traf keine Kugel. Ich schwamm zuerst flußab, dann lange im Mündungssee, bis türkische Schmuggler mich herausfischten. Ich durchstreifte den Balkan und Europa. Ein paarmal geriet
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