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Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Titel: Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)
Autoren: Benoît B. Mandelbrot
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entwickelt, in der man die Vergangenheit in Erinnerung ruft und viele wichtige Mitspieler zusammenführt. In meinem Leben spielte sich tatsächlich eine solche Szene ab. Sie wurde im Juni 1930 in der Wohnung der Familie aufgezeichnet, in der ich am 20.November 1924 geboren wurde.
    Dieses außergewöhnliche Ereignis versammelte einige der wichtigsten Menschen meines Lebens an einem Tisch. Durch mehrere der Anwesenden bekamen einige im späten 19.Jahrhundert wurzelnde mathematische Vorstellungen einen vermutlich größeren und unmittelbareren Einfluss auf mein Lebenswerk als der Computer, eine Erfindung des 20.Jahrhunderts.
    Schauplatz der Szene war das Esszimmer unserer Wohnung in der Ulica Muranowska 14 im Warschauer Ghetto. Über einen handtuchgroßen Park hinweg bot sie einen Blick auf die Fassade eines während der Bauzeit aufgegebenen Hauses, das wahrscheinlich noch immer nicht fertiggestellt war, als der Zweite Weltkrieg die ganze Gegend, diese ganze Welt einebnete.
    Ein für den Anlass bestellter professioneller Fotograf produzierte mit seiner Momentaufnahme ein Familienerbstück, das allseits bewundert und kommentiert wurde. Es dokumentiert einen großen Teil meiner Familiengeschichte und die Tatsache, dass ich an einem Ort aufgewachsen bin, den man wohl als ein Haus von Mathematikern bezeichnen kann.
    Auf unterschiedliche Weise hat jeder Teilnehmer des auf diesem Foto festgehaltenen Abendessens Einfluss auf meine Abstammung und auf mein Denken gehabt. Zu verschiedenen Zeiten sind sie für mich ein Vorbild, dem es nachzueifern galt, ein unbeugsamer Ansporn oder ein Gremium gestrenger Richter gewesen. Als nur schwach in seiner Gegenwart verankerter Einzelgänger fand ich bei ihnen auch eine tiefgehende und ständige Quelle des Trostes. Lassen Sie mich diese Mitspieler kurz skizzieren, ehe ich mit mehr Muße auf die wichtigeren zurückkomme.

© Benoît B. Mandelbrot Archives

    Gastgeberin und einzige Frau auf dem Foto ist Tante Helena Loterman. Von Vaters vier Schwestern (davon zwei Zahnärztinnen) war sie die dritte und einzige, die sowohl willens als auch in der Lage war, einen Haushalt zu führen. Daher blieb Helena in einer Gemeinschaft, in der Frauen noch vor den Männern eine formelle Ausbildung erhielten – und in der man von ihnen erwartete, außer Haus zu arbeiten, wenn ihnen das möglich war –, eine zufriedene und kinderlose Vollzeit-Hausfrau. Zudem war sie die unerschütterliche Pflegerin für den 80-jährigen weißbärtigen Patriarchen auf dem Foto, ihren Vater und meinen Großvater Szlomo. Er starb fünf Jahre nach diesem Ereignis.
    Großvater sprach kein Polnisch – was meine einzige Sprache war –, weshalb wir nicht miteinander reden konnten. Er hatte aber sehr großen Einfluss auf die Familie. Zur Welt kam Szlomo in einer ansehnlichen alten Stadt im russischen Zarenreich, die ein grausames Schicksal mit einer beträchtlichen Vielzahl von Namen versehen hat. Wie die meisten ihrer Bewohner seiner Zeit nannte er sie Wilna. Polen schreiben sie Wilno. Mittlerweile ist die Stadt unter dem noch älteren Namen Vilnius wieder die Hauptstadt eines unabhängigen Litauen – heute ein kleiner Staat des Baltikums, doch einst ein sehr mächtiges Großherzogtum, das bis zum Schwarzen Meer reichte und mit Polen verbunden war. Auf seiner unter einem schlechten Stern stehenden Reise nach Moskau im Jahr 1812 bezeichnete Napoleon Bonaparte das Land als das Jerusalem des Nordens. Meine Vorfahren beider Seiten hatten fünf Jahrhunderte in dieser Gegend gelebt und eine sehr intellektuelle Variante des Judentums praktiziert: irgendwie calvinistisch – im Gegensatz zu den eher baptistisch angehauchten chassidischen Varianten, die weiter südlich in der Ukraine aufkamen. Die wirtschaftliche Entwicklung veranlasste Szlomo, in das boomende Warschau zu ziehen, wo mein Vater geboren wurde. Ob die wenigen Familien, die unseren Namen – in verschiedenen Schreibweisen – tragen, mit uns verwandt sind, ist unklar. Auf jeden Fall kommt der Name wohl nur bei den Aschkenasim vor.
    Man sagt, dass alle männlichen Vorfahren meines Vaters fromme Schriftgelehrte waren. Es waren Männer mit hoher Bildung, die allseits bekannt, manche sogar berühmt waren unter den Juden. Jeder stellte der Tradition folgend sicher, dass seine Lieblingstochter seinen bevorzugten Schüler heiratete – so war Großvaters Lehrer mein Urgroßvater geworden. Die unterschiedliche Kleidung der Personen auf dem Foto verrät, dass es innerhalb einer
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