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Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Titel: Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)
Autoren: Benoît B. Mandelbrot
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lieferte eine Theorie und zeigte, dass mittlerweile eine erstaunliche Anzahl und Vielfalt von Fragen mit starken neuen Werkzeugen angegangen werden kann. Sie stellen die herkömmliche Sicht der Natur infrage, die der Standardgeometrie zu eigen ist – sie betrachtet raue Formen als formlos. Wie es aussieht, habe ich als Reaktion auf jenen alten Hinweis Platons die Reichweite der rationalen Wissenschaft auf eine weitere grundlegende Empfindung des Menschen ausgedehnt – eine, die für so lange Zeit nicht gebändigt worden war.
    Im Verlauf eines Lebens, das weit mehr Unterbrechungen ausgesetzt war, als mir lieb gewesen wäre, haben IBM Research für 35 Jahre und dann viele Jahre lang Yale eine Grundlage für Stabilität bereitgestellt. Zudem habe ich lange genug gelebt, um meine Arbeit in großartigerer Weise gewürdigt zu sehen, als ich mir je hätte vorstellen können.
    Mein Berufsleben wäre vielleicht etwas einfacher verlaufen, wenn ich diese Erinnerungen früher geschrieben hätte. Doch die Verzögerung hat sich als fruchtbar erwiesen. Dadurch wurden manche weniger wichtige Details ausradiert, und mein Lebenslauf ist klarer geworden – sogar für mich.
    In diesen Erinnerungen sind wörtliche Zitate kursiv gesetzt. Gespräche, die ich wiedergebe, sind durch An- und Abführungszeichen gekennzeichnet. Es gibt keine Fußnoten und nur sehr wenige Quellenverweise.

TEIL I
Wie ich Wissenschaftler wurde
    Alle Wahrheiten sind leicht zu verstehen,
    sobald man sie entdeckt hat;
    es geht darum, sie zu entdecken.
    Galileo Galilei

1
Wurzeln – von Körper und Geist
    In friedlichen und wohlhabenden Ländern haben die Kinder von Landbesitzern, Bäckern oder Bankiers eine einfache Option: der Tradition und dem Gewerbe der Familie zu folgen. Ich dagegen wurde in Polen geboren und bin in Litauen aufgewachsen – dort war es weder friedlich noch wohlhabend. Ein in diesem Teil Europas geborener Schriftsteller hat festgestellt: »Wehe dem Dichter, der in gewalttätigen Zeiten in einem interessanten Teil der Geografie geboren ist.«
    Der wesentliche vererbbare Besitz meiner Vorfahren bestand in reichlich abgegriffenen Büchern. Tatsächlich bestand die Familientradition – über viele Generationen hinweg – darin, der Gier zu entsagen und geistige Tätigkeiten vorzuziehen.
    Man sah es als höhere Berufung an, Wissenschaftler, Denker oder Erfinder zu sein – damit streifte man das Göttliche. Ein Wissenschaftler oder kreativer Kopf wurde als » großartig « bezeichnet. Für die Jüngeren in unserer Familie und meine Freunde war es ein unglaubliches und außergewöhnliches Privileg, wenn einem gestattet wurde, zu denken und sein Leben der Wissenschaft zu widmen. Geld wurde gering geschätzt, und man strebte nicht nach Reichtümern oder einer Karriere. Ganz und gar nicht! Im Gegenteil, man wollte sich für die Wissenschaft aufopfern.
    Diese Zeilen schrieb mein Onkel Szolem (1899–1983). Auf sehr unterschiedliche Weise brachten er wie auch ich dieses Opfer. Er wurde ein sehr bekannter Mathematiker des akademischen Mainstreams. Vielen Menschen mögen seine Worte naiv oder gar kitschig vorkommen. Ich finde sie beeindruckend, denn sie beschreiben eine außergewöhnliche Verschmelzung jüdischer und russischer Traditionen und in vieler Hinsicht einen Höhepunkt in der Bereitschaft des Menschen, sich den großen ungelösten Fragen der Erkenntnis zu stellen – ein Umfeld, das die Bedeutung des Ausdrucks »kitschig« gar nicht kannte und viele Formen von Heldentum, aber selbstverständlich auch von Zerstörung begründet hat.
    Begabten jungen Leuten gewährte diese Umgebung keineswegs das Gefühl, Ansprüche geltend machen zu können, und man ermutigte sie auch nicht mit schönen Worten. Sie bot nicht nur keine Zuflucht angesichts der tragischen Lebensrealität, sondern erlegte einem auch eine schwere Last auf: wissenschaftlich zu glänzen oder zumindest anzustreben, irgendeine Art Gelehrter zu werden – aber nicht ohne auch Zeit für eine Familie und Vergnügungen zu haben.
    Wie habe ich reagiert? Kurz gesagt, ich gehorchte. Aber anders als dieser Onkel und beeinflusst durch den Zweiten Weltkrieg in Frankreich wählte ich einen Weg, auf den sich meines Wissens zuvor noch niemand gewagt hatte.

Schicksalhaftes Abendessen im Juni 1930
    Wie bedeutend so manches Ereignis gewesen ist, wird oft erst erkannt, wenn es zu spät ist, es richtig wahrzunehmen. Für viele Theaterstücke oder historische Erzählungen wird eine Ausgangsszene
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