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Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Titel: Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)
Autoren: Benoît B. Mandelbrot
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(1893–1978) und Pierre Fatou (1878–1929). Um 1980 hatte ich die Ehre, mit der Entdeckung der Mandelbrot-Menge Montels wissenschaftliche Nachkommenschaft zu vergrößern – diese Arbeit machte den Namen meiner Familie weithin bekannt.
    Der Mathematiker Arnaud Denjoy (1884–1974) – er sitzt in der Mitte – beeinflusste nur einen Randbereich meiner Arbeit, der nicht allzu große Bedeutung hat.
    Neben Tante Helena steht schließlich noch ihr Gatte Loterman, eine angenehme Erscheinung, sanft und kultiviert. Als mein Privatlehrer trug er dazu bei, meine sehr spezielle »formale« Bildung zu fördern. Bei der damaligen wirtschaftlichen Depression in Warschau war regelmäßige bezahlte Beschäftigung ein Privileg, dessen sich Loterman, Mutters jüngerer Bruder und andere Verwandte anscheinend nie erfreuen konnten. Eine starke Familiensolidarität bewahrte sie jedoch irgendwie alle vor niedrigen Arbeiten. Die Lotermans gingen im Holocaust unter.

Vater
    Einer der Gäste des folgenreichen Abendessens muss genauer betrachtet werden. Als Szolem zur Welt kam, war Vater 16 und besuchte eine höhere Handelsschule. Er wurde Buchhalter, bildete sich jedoch lebenslang weiter und war ein äußerst belesener, geistig klarer und wissbegieriger Mensch. Zudem war er sehr daran interessiert, wie Maschinen funktionieren, und sehr geschickt im Umgang mit Werkzeugen – während des Kriegs brachte er mir viele Tricks bei.

© Benoît B. Mandelbrot Archives

    Einen Mann erkennt man auch daran, welche Helden er hat. Ganz besonders verehrte Vater den Linsenschleifer und Philosophen Baruch Spinoza, aber gleich danach kam Charles Proteus Steinmetz, ein zwergwüchsiger Elektroingenieur, der ein produktiver Erfinder und ein Verfechter kompetenter und ehrlicher Verwaltung in Schenectady im Staat New York wurde. Vaters Kreativität in Mathematik wurde nie auf die Probe gestellt, aber er besaß eine phänomenale praktische Begabung für Zahlen: Bei der Addition halbmeterlanger Spalten flog sein spitzer Bleistift nur so auf und ab, und er machte nie einen Fehler.
    Eine Episode aus der Zeit der deutschen Besetzung Frankreichs verdeutlicht, wie intelligent, unabhängig und wagemutig er war. Einmal hatte man ihn verhaftet und zu einem Sammelpunkt für den Transport zu den Todeslagern gebracht. Eines Tages gab es einen Überfall durch eine Widerstandsgruppe. Die Kämpfer überwältigten die Wachen, schrien, sie könnten nur die Tore öffnen, das Lager aber nicht verteidigen, befahlen allen wegzulaufen, und verschwanden. Vater fand sich in einer langen Kolonne von Männern wieder, die in Richtung auf die nächste große Stadt marschierte. Er ahnte Schlimmes, bog in eine kleine Nebenstraße ab und sah voller Schrecken mit an, wie ein von den Wachen alarmierter Stuka der Waffen-SS die Kolonne der gerade befreiten Gefangenen unter Beschuss nahm. Heimwärts wanderte er auf kleinen Feldwegen und schlief unterwegs in verlassenen Schuppen. Auch von anderen Überlebenden des Kriegs gibt es Schilderungen, wie sie als Trupp auf dem Weg zu den Todeslagern waren, dann aber einen Ausweg entdeckten und ihn sofort nutzten. Mein Vater war von diesem Schlag.
    Sehr widerstrebend war er zum Geschäftsmann geworden, den das Schicksal ins Bekleidungsgeschäft gezwungen hatte – »Nadelgeschäft« oder »Lumpen«. Diese Tätigkeit brachte ihm keine Erfüllung, und in meinem Leben spielte sie kaum eine Rolle. Nie brachte er mir »geschäftliche Schliche« bei. Er war nicht der Mann für Organisationen, sondern schaffte es, immer auf eigene Rechnung oder schlimmstenfalls mit einem einzigen Partner zu arbeiten.
    Zu meinen frühesten Erinnerungen gehören Besuche in seinem Großhandelsgeschäft für Damentextilien: Strümpfe, Trikots und Handschuhe. Sein Laden befand sich in der Ulica Nalewki 18, einer großen Einkaufsstraße des jüdischen Viertels im Erdgeschoss am Ende eines Hofes, der mir damals sehr groß vorkam. Der Zweite Weltkrieg hat Warschau in einen Trümmerhaufen verwandelt; die Nalewki wurde danach als kurze, gepflasterte Straße an einem Park wiederaufgebaut, wo niemand wohnt – sie ist nur noch ein Schatten ihrer früheren quirligen Vorgängerin. Vor Kurzem mailte mir ein Gratulant die Kopie eines alten Handelsverzeichnisses, aus dem hervorging, dass das Haus Nalewki 18 eine ganze Menge ähnlicher Geschäfte beherbergte. Das heißt, Vater hatte sich die bestmögliche Lage in Warschau ausgesucht. Sein Geschäft gehörte zu den wenigen »registrierten« Läden,
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