Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schlink,Bernhard

Schlink,Bernhard

Titel: Schlink,Bernhard
Autoren: Sommerlügen
Vom Netzwerk:
Burg so steil und der Blick von der Burg so weit wie damals. Sie setzte
sich mit Emilia auf
die Terrasse und sah auf die Stadt und ins Land.
    »Und?
Ist es, wie du dir's vorgestellt hast?«
    »Ach,
Kind, lass mich einfach ein bisschen sitzen und schauen. Ich hatte mir zum
Glück nicht viel vorgestellt.«
    Sie
war müde, und als sie auf der Terrasse zu Abend gegessen und das Hotel wieder
gefunden hatten, ging sie ins Bett, obwohl es gerade erst acht war. Emilia hatte um die Erlaubnis gebeten, noch ein bisschen durch die
Stadt zu streifen, und die Bitte hatte sie erstaunt und gerührt. War Emilia nicht selbständig?
    So
müde sie war, sie schlief nicht ein. Draußen war es noch hell, und sie konnte
alles deutlich erkennen: den dreitürigen Schrank, den Tisch an der Wand mit dem
Spiegel darüber, nach Bedarf Kosmetik- oder Schreibtisch, die beiden Sessel
neben dem Regal, auf dem eine Flasche Wasser und ein Glas und ein Korb mit
Früchten standen, den Fernsehapparat, die Tür zum Badezimmer. Das Zimmer
erinnerte sie an die Zimmer, in denen sie mit ihrem Mann übernachtet hatte, als
sie ihn noch auf Konferenzen begleitete; es war das Zimmer eines guten, an
einem kleinen Ort sogar des besten Hotels, aber so funktional, dass es keinen
Charakter hatte.
    Sie
dachte an das Zimmer, in dem Adalbert und sie die erste gemeinsame Nacht
verbracht hatten. Ein Bett stand drin, ein Stuhl, ein Tisch mit Waschkrug und
-schüssel, und über dem Tisch hing ein Spiegel und an der Tür ein Haken. Es war
funktional. Und hatte doch Geheimnis und Zauber. Adalbert und sie hatten in dem
Landgasthaus unter dem strengen Blick der Wirtin zwei Einzelzimmer genommen.
Nach dem Abendessen gingen sie auf ihre Zimmer, und obwohl sie nichts
verabredet hatten, wusste sie, dass er kommen würde. Sie hatte es schon am
Morgen gewusst und ihr schönstes Nachthemd eingepackt. Jetzt zog sie es an.
    Hätte
mit Adalbert auch dieses Zimmer Charakter? Wäre sie auch mit ihm viel gereist,
hätte sie auch mit ihm viel in Hotels übernachtet? Wie wäre das Leben mit ihm
geworden? Auch ein Leben an der Seite eines Mannes, der viel Verantwortung
trug, viel auf Reisen und wenig zu Hause war, Affären hatte? Sie konnte sich
das Leben mit Adalbert so nicht vorstellen, aber sie konnte es sich auch nicht
anders vorstellen. Sie hatte beim Gedanken an ein Leben mit Adalbert Angst,
ein eigentümliches Gefühl des Bodenlosen. Weil er sie hatte sitzenlassen?
    Sie
hatte das Fenster geschlossen und hörte die Geräusche der Straße nur gedämpft:
das helle Lachen junger Frauen, das laute Reden junger Männer, das Auto, das
langsam durch die Fußgänger fuhr, die Musik aus einem offenen Fenster, das
klirrende Zerspringen einer Flasche. Hatte ein Betrunkener die Flasche fallen
lassen? Sie hatte Angst vor Betrunkenen, obwohl sie ihnen sofort mit fester
Stimme zu verstehen geben konnte, dass sie sich von ihnen nichts bieten lassen
würde. Es ist eigentlich seltsam, dachte sie, dass anderen Angst zu machen
nicht davor schützt, vor ihnen Angst zu haben.
    Je
länger sie dalag und nachdachte, desto wacher wurde sie. Was Emilia machen mochte? Was für eine Ärztin sie einmal werden würde?
Eine resolute oder eine behutsame? Warum fragte sie sich das? Liebte sie ihre
Enkelin doch? Wie stand es um die anderen Enkel und die Kinder? Sie hatte das
geforderte mittägliche und abendliche Anrufen Emilia überlassen und abgewinkt, als Emilias Eltern auch mit ihr sprechen wollten. Sie wollte von der
Familie in Ruhe gelassen werden, daran hatte sich nichts geändert. Am besten
wäre es, wenn auch Emilia sie
in Ruhe ließe.
    Sie
stand auf und ging ins Badezimmer. Sie zog das Nachthemd aus und sah sich an.
Die mageren Arme und Beine, die schlaffen Brüste und der schlaffe Bauch, die
schwere Taille, die Falten im Gesicht und am Hals - nein, sie mochte auch sich
nicht. Nicht, wie sie aussah, nicht, wie sie fühlte, nicht, wie sie lebte. Sie
zog das Nachthemd wieder an, legte sich ins Bett und stellte den Fernseher an.
Wie selbstverständlich sie sich liebten, die Männer und die Frauen, die Eltern
und die Kinder! Oder spielten alle nur ein Spiel, in dem der eine dem anderen
etwas vormacht, damit auch der andere dem einen seine Illusionen lässt? Hatte
sie an dem Spiel einfach den Spaß verloren? Oder lohnte sich für sie der
Einsatz nicht mehr, weil sie für die Jahre, die ihr noch blieben, keine Illusionen
mehr brauchte?
    Sie
brauchte auch keine Reisen mehr. Das Reisen war nur eine Illusion,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher