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Schlink,Bernhard

Schlink,Bernhard

Titel: Schlink,Bernhard
Autoren: Sommerlügen
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und Schulalltag, ihre kläglichen Versuche, es beim Ballett und
am Klavier zu finden. Der kleine Junge, dessen Geschichte sie sahen, war vom
Film fasziniert, ließ dem Filmvorführer in dem kleinen sizilianischen Dorf
keine Ruhe, bis er beim Vorführen assistieren durfte, und wurde schließlich
Regisseur. Von den Träumen ihrer Kindheit war am Ende nur noch geblieben, den richtigen
Mann zu finden, und auch das war ihr nicht gelungen.
    Aber
sie hatte sich noch nie Selbstmitleid erlaubt und erlaubte es sich auch heute
nicht. Emilia kam
mit Tränen in den Augen aus dem Kino, legte den Arm um sie und schmiegte sich
an sie. Sie tätschelte Emilia beruhigend
den Rücken; den Arm um sie zu legen, dazu konnte sie sich nicht bringen. Emilia entzog sich denn auch bald, und sie liefen nebeneinander
durch die sommerabendhelle Stadt zum Hotel.
    »Du
willst wirklich morgen wieder nach Hause?«
    »Ich
muss nicht früh zu Hause sein, und wir müssen nicht früh aufbrechen. Ist dir
Frühstück um neun recht?«
    Emilia nickte. Aber sie war mit ihrer Großmutter und den letzten
beiden Tagen nicht zufrieden. »Du schläfst jetzt, als sei nichts gewesen?«
    Sie
lachte. »Nicht einmal, wenn nichts gewesen ist, schlafe ich, als sei nichts
gewesen. Weißt du, wenn man jung ist, schläft man, oder man ist wach und auf.
Im Alter gibt es als Drittes die Nächte, in denen man weder schläft noch wach
und auf ist. Es ist ein Zustand eigener Art, und eines der Geheimnisse des
Altwerdens besteht darin, ihn als solchen zu akzeptieren. Wenn du willst,
kannst du noch durch die Stadt streifen, ich erlaube es dir.«
    Sie
ging auf ihr Zimmer und legte sich ins Bett. Sie wappnete sich für eine Nacht
mit Einschlafen und Aufwachen und Erinnern und Überlegen und Einschlafen und
Aufwachen. Aber sie wachte am nächsten Morgen auf.
    Dann
saßen sie im Auto, fuhren wieder auf der kleinen Straße und folgten den
Windungen des Flusses. Emilia hatte
begriffen, dass ihre Fragen zu nichts führten, und fragte nicht mehr. Sie
wartete.
    »Es
war nicht so, wie ich es dir auf der Hinfahrt erzählt habe. Er hat mich nicht
verlassen. Ich habe ihn verlassen.« Das war eigentlich alles. Aber um Emilias willen redete sie weiter. »Als wir uns am Bahnhof
verabschiedeten, wusste ich, dass er bald wiederkommen würde, und auch, dass er
nicht schreiben oder anrufen konnte. Ich hätte auf ihn warten können. Aber
meine Eltern hatten herausgefunden, dass ich gar kein Praktikum machte, und
haben Helmut losgeschickt. Er sollte mich nach Hause bringen, und er hat mich
nach Hause gebracht. Ich hatte Angst vor dem Leben mit Adalbert, vor der Armut,
in der er aufgewachsen war und die ihm nichts ausmachte, vor seinen Gedanken, die
ich nicht verstand, vor dem Bruch mit meinen Eltern. Helmut war meine Welt, und
ich bin in meine Welt geflüchtet.«
     
    12
     
    »Warum
hast du mir alles anders erzählt?«
    »Ich
hatte geglaubt, es sei anders gewesen. Noch als ich mit Adalbert sprach.«
    »Man
kann doch nicht...«
    »Doch, Emilia, man kann. Ich habe nicht
ausgehalten, dass ich mich falsch entschieden habe. Adalbert sagt, es gibt
keine falschen Entscheidungen - dann habe ich eben nicht ausgehalten, dass ich
so entschieden habe, wie ich entschieden habe. Habe ich überhaupt entschieden?
Ich hatte damals das Gefühl, es ziehe mich, zuerst zu Adalbert und dann doch
stärker in meine alte Welt und zu Helmut. Als ich in meiner alten Welt und mit
Helmut nicht glücklich wurde, habe ich Adalbert nicht verziehen, dass er meine
Ängste nicht gesehen und mir nicht geholfen, mich nicht gehalten hat. Ich habe
mich von ihm verlassen gefühlt, und die Erinnerung hat alles in die Szene
gefasst, als er auf dem Bahnsteig Abschied genommen hat.«
    »Aber
du hast dich doch entschieden!«
    Sie
wusste nicht, was sie antworten sollte. Dass es keinen Unterschied mache, weil
sie mit den Folgen so oder so habe leben müssen? Dass sie nicht wisse, was sich
entscheiden eigentlich sei? Nachdem Helmut sie nach Hause gebracht hatte,
verstand sich von selbst, dass sie ihn heiraten würde, die Kinder kamen von
selbst, und die Affären auch. Die Pflichten, für die sie gelebt hatte, waren da
und mussten erfüllt werden - was gab es da zu entscheiden?
    Ärgerlich
sagte sie: »Hätte ich mich entscheiden sollen, mich nicht um die Kinder zu
kümmern? Sie nicht zu pflegen, wenn sie krank waren, mit ihnen nicht über das
zu reden, was sie beschäftigte, sie nicht ins Konzert und Theater mitzunehmen,
nicht die richtigen Schulen
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