Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schlichte Geschichten aus den indischen Bergen

Schlichte Geschichten aus den indischen Bergen

Titel: Schlichte Geschichten aus den indischen Bergen
Autoren: Rudyard Kipling
Vom Netzwerk:
und tranken, was wir mit uns hatten, bis der Mond aufging. Heute weiß ich genau, wie einem Mörder zumute ist. Wir zwangen uns schließlich dazu, in das Zimmer mit der Lampe und dem, was noch drinnen war, zurückzugehen, und die neue Arbeit begann. Ich schreibe darüber nicht. Es war zu grauenvoll. Wir verbrannten die Bettstatt und warfen die Asche in den Kanal. Wir hoben die Matten vom Boden und verbrannten auch sie. Ich ging ins Dorf,um Spaten zu holen – fremder Leute Hilfe wollte ich nicht –, während der Major – – das andere besorgte. Vier harte Stunden lang gruben wir das Grab. Bei der Arbeit stritten wir darüber, ob es richtig wäre, über dem Grabe die Begräbnisformeln, soweit wir uns ihrer erinnerten, zu sprechen. Wir einigten uns auf das Vaterunser und auf ein persönliches, formloses Gebet für den Seelenfrieden des ›Jungen‹. Dann schütteten wir das Grab zu und legten uns auf der Veranda – nicht im Hause – zur Ruhe. Wir waren sterbensmüde.
    Beim Aufwachen sagte der Major stumpf: »Wir können vor morgen nicht zurück. Wir müssen ihm schon die nötige Zeit zum Sterben lassen. Vergessen Sie nicht, daß er erst heute morgen gestorben ist. Das klingt natürlicher.«
    Der Major mußte also die ganze Nacht wach gelegen und gegrübelt haben. Ich erwiderte: »Weshalb haben wir eigentlich die Leiche nicht ins Quartier zurückgebracht?«
    Der Major sann einen Augenblick nach: »Weil die Leute ausgerissen sind, als sie von der Cholera hörten. Weil die ›Ekka‹ fort war.«
    Das war in der Tat wahr. Wir hatten das Ekkapony ganz vergessen, und es war allein wieder nach Hause gelaufen.
    Also waren wir uns selbst überlassen, den ganzen langen schwülen Tag im Unterkunftshaus am Kanal. Wir prüften wieder und immer wieder unsere Geschichte vom Tode des ›Jungen‹, ob sich auch nicht etwa eine schwache Stelle darin befände.
    Nachmittags erschien plötzlich ein Einheimischer. Wir sagten ihm, daß ein »Sahib« an der Cholera gestorben sei, und fort war er. Als die Dämmerung kam, sprach mir der Major von seinen alten Sorgen um den ›Jungen‹, und erzählte schreckliche Geschichten von Selbstmord und verhindertem Selbstmord, bis uns die Haare zu Berge standen.Er sagte, daß er, als er jung und das Land ihm fremd war, auch auf dem Wege zum Tal der Schatten gestanden hätte, ganz wie der ›Junge‹. Und darum könne er dem armen ›Jungen‹ die chaotischen Kämpfe nachfühlen. Er sagte auch, daß junges Volk in Augenblicken der Reue seine Sünden stets für schwerer und unverzeihlicher hält, als sie es in Wirklichkeit sind. Wir verplauderten den ganzen Abend und gingen immer wieder die Geschichte von des ›Jungen‹ Tod durch. – Als der Mond aufgegangen, und der ›Junge‹ – unserer Theorie nach – eben begraben sein konnte, gingen wir geraden Wegs über Land zur Garnison. Wir liefen von acht Uhr abends bis zum nächsten Morgen sechs Uhr. Obgleich wir todmüde waren, vergaßen wir doch nicht in des ›Jungen‹ Zimmer zu gehen, um seinen Revolver mit der fehlenden Munition an Ort und Stelle zu tun; und auch die Schreibmappe legten wir auf den Tisch. Wir suchten den Oberst auf und meldeten ihm den Todesfall. Mehr denn je fühlten wir uns als Mörder. Dann gingen wir zu Bett und schliefen, bis der Zeiger wieder auf der gleichen Stelle stand. Wir waren völlig erschöpft.
    Unsere Geschichte wurde geglaubt, solange es nötig war. Denn nach vierzehn Tagen dachte niemand mehr an den ›Jungen‹. Einige fanden nur noch Zeit, zu bemerken, der Major habe unverantwortlich gehandelt, daß er dem Toten die Möglichkeit eines militärischen Begräbnisses genommen habe. Das Traurigste von allem war der Brief von des ›Jungen‹ Mutter an den Major und mich, mit großen Tintenflecken, die den Bogen bedeckten. Sie schrieb uns viel Liebes über unsere große Güte, und daß sie ihr Leben lang uns dankbar sein würde.
    Und in Wahrheit hatte sie auch Grund uns dankbar zu sein, nur nicht ganz aus dem Grund, den sie meinte.

Miss Youghals »Sais«
    Hier und da hört man die Behauptung, es gäbe in Indien keine Romantik. Aber hier und da irrt man sich. Unser Leben hat so viel Romantik, wie uns gut tut. Manchmal auch mehr.
    Strickland war bei der Polizei. Die Leute verstanden ihn nicht. Darum sagten sie, er sei ein Mann von zweifelhaftem Charakter, und wichen ihm aus. Strickland hatte sich das selbst zu verdanken. Er hatte das sonderbare Prinzip, daß ein Polizeibeamter in Indien die Einheimischen ebensogut
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher