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Schlechte Gesellschaft

Titel: Schlechte Gesellschaft
Autoren: Katharina Born
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Briefen?«
    Â»Ihre Mutter hat mich schon gewarnt, dass es kaum Aussicht auf Erfolg hat, Sie zu bitten …«
    Â»Nein, warum?«, sagte Judith, ohne die Witwe auch nur anzusehen. »Es ist alles ziemlich durcheinander. Aber wir haben nie etwas weggeworfen. Die Briefe müssten zu finden sein.«
    Hella Vahlen war zum Fenster gegangen und stand nun fast hinter Wieland.
    Â»Du vergisst, dass wir nicht wissen, was in den Briefen drinsteht. Wenn sie überhaupt noch existieren«, sagte sie.
    Â»Ich habe vor dem Herrn Doktor nichts zu verbergen«, entgegnete Judith. Wieland fragte sich, ob ihre Worte so zweideutig gemeint waren, wie sie klangen.
    Â»Das kann ich mir vorstellen«, sagte die Witwe. »Aber vielleicht habe ich ja etwas zu verbergen? Es geht nicht immer nur um dich.«
    Â»Ich würde natürlich alle Funde von Ihnen prüfen lassen, bevor ich sie selbst ansehe«, sagte Wieland.
    Â»Es steht völlig außer Frage, dass Sie selbst den Nachlass durchsuchen«, sagte Hella Vahlen. »Auch für die Briefe meines Mannes im Archiv gilt, dass Sie fürs erste kein Wort daraus zitieren dürfen.«
    Wieland biss sich auf die Lippe. Er sah sich nach der Tochter um.
    Judith schaute aus dem Fenster. Das Bild erinnerte ihn an Gemälde niederländischer Meister, oder an diese amerikanische Schauspielerin, deren Name ihm nie einfiel und die in den großen Literaturverfilmungen immer die Hauptrolle spielte. Aber dann dachte er, dass die Vahlen-Tochter einfach zu schön war. Ihre Perfektion erschien ihm nahezu unwirklich, in jedem Fall für ihn unerreichbar. Wenn er Glück hatte, würde Judith bei ihrer Mutter ein gutes Wort für ihn einlegen. Alles, was er wollte, waren Gellmanns Briefe. Wieland hatte es schon immer zu seinen Vorzügen gerechnet, dass er wusste, wo er hingehörte.

 
    Erster Teil
    Â 
    Irma Vahlen

Melsbacher Hohl (Winter 1870)
    Der Tag, an dem der junge Vahlen nach Sehlscheid gekommen war, erschien Irma Wittlich schon bald wie ein entfernter, merkwürdiger Traum. Allein die regelmäßigen Geldsendungen aus Koblenz zeugten davon, dass ihre Verlobung mit Johann Georg Vahlen echt war. Wie schon immer bestand Irmas Leben aus Warten und Aushalten. Aber gerade die bevorstehende Hochzeit bewirkte, dass sie sich in Sehlscheid, mehr noch als je zuvor, allein fühlte.
    Keiner der jungen Männer und nicht einmal die Älteren wagten es, sie auf der Kirmes zum Tanz aufzufordern. Wenn sie mit ihrer Wäsche auf den Burplatz kam, verstummten die Gespräche der Frauen. Und obwohl Irma weiterhin mit den anderen Mädchen in die Wälder zum Beerensammeln ging, sprach kaum eines von ihnen mehr ein Wort mit ihr.
    Wenn sie auf dem Markt in Arlich an den Auslagen vorbeilief, das Geld für die Heidelbeeren bereits in ihrer Schürzentasche, dann war es, als wollte das Zischen und Pfeifen der Händler, das Starren auf ihre nackten Beine und Schultern nie aufhören. Dabei wäre sie gerne stehen geblieben, um die Finger über den Arlicher Bims streifen zu lassen, der dort in allen Größen, Farben und Formen verkauft wurde: Der stumpfgraue feine, der grobe weiße und der weiche cremefarbene Bims, ein karstiges, laues Gestein, das sich anfühlte wie die Einsamkeit selbst.
    Seit das Geld aus Koblenz da war, überließ August Wittlich die Feldarbeit ganz den Frauen. Ihre Schwestern wollten mit Irma nicht mehr das Strohbett teilen. So bekam sie einen Platz in der Küche. Und wenn der Alte am Abend mit den Mädchen lachte, sie an denHüften packte und sich auf den Schoß setzte, saß Irma auf ihrem Lager und fror.
    Ein einziges Mal nur, nachdem zu Allerheiligen wieder ein Brief von Vahlen eingetroffen war, zerrte der Vater sie nachts nach draußen. Den ganzen Abend hatte er in der Vorküche gesessen und getrunken. Jetzt stieß er Irma vor sich her in den Hühnerstall und drückte sie rasch zu Boden. Die Hennen auf ihren Stangen gackerten und flatterten mit den Flügeln, dann fiel die Tür des Verschlags zu, und es wurde dunkel und still. Schnaufend legte sich der Alte auf sie. Er versuchte einige Bewegungen, aber Irma brauchte sie kaum abzuwehren, da war er schon eingeschlafen. Lange blieb sie reglos liegen. Außer der Kälte fühlte sie nichts. Erst als der Atem ihres Vaters wieder regelmäßig wurde, wagte sie, sich unter ihm hervorzuwinden. Mit einem rasselnden Schnarchlaut rollte er ins
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