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Schlankheitswahn (Ein Fall für Lizzy Gardner) (German Edition)

Schlankheitswahn (Ein Fall für Lizzy Gardner) (German Edition)

Titel: Schlankheitswahn (Ein Fall für Lizzy Gardner) (German Edition)
Autoren: T. R. Ragan
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Ergebnisse empfand. Es gab auf der ganzen Welt keinen einzigen Menschen, dem er nicht helfen konnte, davon war er überzeugt.
    Er legte ihr die Hände auf die Schultern und führte sie von der Waage weg zu der einen Wand im Zimmer, die sie während ihres Aufenthalts wegen der Fußketten nicht erreichen konnte. Ein dunkles Seidentuch hing dort.
    Es war Zeit für die große Überraschung.
    Aber zuerst nahm er den Kamm vom Nachtkästchen und bürstete ihr die Zotteln aus den langen, dunkelblonden Haaren.
    Sie verharrte schweigend und mit abgestumpftem, leblosem Blick.
    Als er fertig war, trat er vor das Tuch. Dann drehte er sich um, holte tief Atem und starrte sie an. Nach dreißig Sekunden merkte er, dass er immer noch den Atem anhielt. Er lächelte, und als ihm einfiel, dass er das Wichtigste beinahe vergessen hatte, schnippte er mit den Fingern.
    Binnen weniger Minuten kehrte er zu demselben Fleck vor dem Tuch zurück und war froh darüber, dass sie sich nicht von der Stelle gerührt hatte. Er hielt die Kamera so hoch, dass er sie von Kopf bis Fuß durch den Sucher sehen konnte.
    »Stellen Sie sich gerade hin«, sagte er.
    Sie veränderte ihre Haltung kaum. Er fotografierte sie trotzdem. Das Entwickeln des Negativs dauerte nur ein paar Minuten. Jetzt konnte er ihr »Vorher«-Bild mit dem vergleichen, das er soeben aufgenommen hatte.
    »Schauen Sie sich das an«, sagte er. »Ohne die Ketten haben Sie fünfundsechzig Kilo verloren.«
    Er entfernte das Tuch. Dahinter befand sich ein Spiegel, der vom Boden bis zur Decke reichte. Er wandte sich diesem zu und wartete auf ihre Reaktion.
    »Das bin ich nicht«, sagte sie kaum hörbar, die eingefallenen Augen starr auf ihr Spiegelbild gerichtet.
    »Doch, das sind Sie.«
    Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen. Sie hob einen Arm, als wolle sie sichergehen, dass das Spiegelbild das gleiche tat.
    Ihre Reaktion irritierte ihn zunächst. Sie müsste sich eigentlich freuen angesichts dieser Wandlung, die ihr Leben von Grund auf veränderte. Nie wieder würde sie so sein wie zuvor. Und trotzdem sah sie unglücklich aus – ein Umstand, den er ihrem Schockzustand zuschrieb. Die Veränderung war zu viel für sie. »Möchten Sie ein Glas Wasser?«
    »Ich möchte hier nicht bleiben. Bitte lassen Sie mich gehen.«
    »Etwas anderes habe ich auch nicht vor.«
    Mit der Rechten fuhr er tief in die Hosentasche und holte einen Schlüsselbund hervor. Dann schloss er die Tür zu seinem privaten Schlafzimmer auf und kam gleich darauf mit einem kleinen altertümlichen Schlüssel zurück. »Setzen Sie sich aufs Bett, damit ich die Ketten entfernen kann.«
    Sie kam seiner Aufforderung mit misstrauischem Blick nach.
    In Sekundenschnelle hatte er die Fußfessel von ihrem Knöchel gelöst. Die Manschette und die daran befestigte Kette fielen klirrend auf den Boden.
    Sie rührte sich nicht, sondern hockte wie ein nasser Sack auf einem Baumstamm. »Sie können jetzt gehen«, sagte er.
    »Ich kann gehen?«
    »Das hab ich doch gerade gesagt.«
    Sie erhob sich und ging langsam zur Tür. Als sie den Knauf drehte, war sie überrascht, dass die Tür nicht verschlossen war.
    Von dort, wo er gerade stand, sah er, dass die Sonnenstrahlen durch die Wolkendecke brachen und trotz des dichten Baumbewuchses bis auf den Waldboden durchdrangen. Überall auf der Terrasse lagen stachelige Kiefernnadeln herum, aber das hielt die Frau nicht davon ab, barfuß hinauszutreten.
    »Wollen Sie nicht lieber erst Ihre Schuhe anziehen?«
    Als sie zu ihm zurückblickte, stand ihr das Misstrauen ins Gesicht geschrieben. Sie sagte kein Wort, sondern wandte sich wieder in Richtung Wald, hastete die Terrassenstufen hinunter und rannte los.
    Verwirrt sah er ihr nach, wie sie durch den dichten Wald hetzte, dessen Boden Blätter und Zweige bedeckten. Wusste sie überhaupt, wohin sie da rannte? Auf Händen und Füßen kroch sie einen Hang hoch, zwischen einer Reihe Kiefern hindurch. Als sie wieder auf beiden Beinen stand, wirkte sie flink und graziös wie ein Rehbock, als hätte sie ihr Leben lang an Marathonläufen teilgenommen, anstatt mit einer Tüte Maischips und Käsesoße vor dem Fernseher zu sitzen.
    Sein Blick glitt von seinem Rucksack neben der Tür zum Küchenboden, der mal wieder gewischt gehörte. Er wusste, dass er eigentlich erst der Frau nachlaufen und das Putzen auf später verschieben sollte, aber das konnte er nicht. In dieser Hinsicht war er äußerst penibel.

Kapitel 3
    Brennende Neugier
    Sacramento, August 2010
    Lizzy
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