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Schlagmann

Schlagmann

Titel: Schlagmann
Autoren: Evi Simeoni
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nebensächlich. Dieses Bild hatte eine ungeheure Wirkung auf mich. Ich kenne heute noch jede Einzelheit. Ich sehe den an einen dunklen Pfahl gefesselten nackten Körper unter einem runden Bogen. Er ist auf eine übernatürliche Weise athletisch. Und doch gibt es ganz zarte Stellen: Der lange, filigrane Hals und besonders seine Schlüsselbeine. Sechs kurze Pfeile stecken in seinem Fleisch. Aber sein Gesicht zeigt kein Leiden.
    Ich habe dieses Bild mehrmals abgezeichnet, sogar die komplizierte Landschaft im Hintergrund, ich habe versucht, diesen überirdischen Gesichtsausdruck zu treffen, aber immer vergeblich. Er blutet aus keiner Wunde, dieser schöne Mann, obwohl sie doch sichtbar da sind, und er scheint dem Schmerz gegenüber gleichgültig zu sein. Eine Kunstpostkarte mit Botticellis Darstellung trug ich zu jener Zeit immer irgendwo mit mir, als Buchzeichen oder lose im Rucksack oder in meiner indischen Stofftasche. Ich war nie gläubig, aber ich betete ihn an.
    Ja. Und dann traf ich Arne.
    Es war Sommer, die Sonne brannte vom Himmel, ich fuhr langsam mit offenem Dach in der Stadt herum und sah ihn am Straßenrand kauern. Er war auf dem Rückweg vom Wassertraining und hatte eine Fahrradpanne. Er fummelte gerade am vorderen Ventil herum.
    Vielleicht war es Fügung, dass es an diesem Tag so heiß war, und ich ihn nicht mit einer meiner Verkleidungen abschreckte. Ich trug den Ich-hab’s-nicht-nötig-Look, eine abgeschnitteneJeans, eine kurze Bluse und Sandalen, die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Männern mag das nicht so gehen, aber ich weiß genau, was ich trug, wenn irgendetwas Wichtiges in meinem Leben passiert ist. Als ich meinen ersten Ehemann kennenlernte, trug ich ein Abendkleid. Beim zweiten war es ein grauer Hosenanzug mit weißer Bluse. Beide Ehen entsprachen dann irgendwie auch ihren Kennenlern-Outfits. Die erste war standesgemäß, die zweite korrekt, aber langweilig. Und die Beziehung zu Arne war genau wie kurze Hosen mit Bluse und ohne BH: körperbetont, aber auf Dauer haltlos und zu dünn.
    Aber Arne war etwas Besonderes. Ganz anders als die Jungs, mit denen ich manchmal einen Kaffee oder einen Wein trinken ging, und die ich hinterher je nach Laune an mich heranließ, oder auch nicht. Er wirkte beinahe unschuldig – so ernsthaft, wie er mit seinem Rad beschäftigt war. Ich konnte gar nicht anders, als die Ente an den Straßenrand zu lenken, auszusteigen und mich an die Tür zu lehnen.
    »Hallo«, rief ich, und als er nicht reagierte: »Hallo, kann ich dir helfen?«
    »Nee«, sagte er, ohne aufzublicken. Seine Stimme war klar und für seine Größe nicht besonders tief. »Der Reifen ist platt, und ich habe kein Flickzeug.« Schon beim ersten Satz erkannte ich den nasalen Tonfall der Norddeutschen.
    »Oh«, sagte ich und probierte mein Lächeln, aber er sah nicht hin. »Ich auch nicht.«
    Er schwieg.
    Mir fiel auch nichts mehr ein, aber ich wollte noch nicht verschwinden.
    »Und sonst?«, fragte ich.
    Er stand langsam auf, wobei er die Hände auf merkwürdige Weise auf seine Knie stützte, und streckte sich.
    Er trug Turnschuhe ohne Socken, beige Shorts und ein weißes T-Shirt, das am Hals abgeschabt und ausgefranst war. Ich schaute verblüfft nach oben: Er war viel größer, als ich erwartet hatte. Dann fiel mein Blick auf seine Schultern.
    Er blickte in die Ferne und schwieg immer noch. Nach einem kurzen Moment der Verblüffung sagte irgendetwas in mir drin ganz laut: »Wow«. Für mich war schon alles klar.
    Er drehte sich zu seinem Rad zurück und löste den Ständer
    »Das Rad in seiner nutzlosesten Form«, erklärte er. »Ich werde es tragen.«
    Es war ein niedriges, blitzendes Rennrad mit dünnen Reifen und schneckenförmigen Griffen am Lenker.
    »Warte mal!«, rief ich, und meine Stimme hatte plötzlich etwas leicht Instabiles.
    Er blickte sich um. Seine Augen waren blau. Seine Nase schmal und lang, sie lief ein wenig spitz zu wie der Schnabel eines Vogels.
    »Du«, ich suchte nach irgendeiner fesselnden Bemerkung, doch mein Kopf war leer. »Du … bist sicher der Sebastian.«
    Er schüttelte den Kopf, aber selbst jetzt kam er nicht auf die Idee, mir seinen Namen zu nennen.
    »Ich bin Anja.«
    Er sagte nicht einmal »aha«. Oder »angenehm«. Stattdessen wurde er auf einmal rot.
    »Soll ich dich im Auto mitnehmen?«, fragte ich.
    Er wich meinem Blick aus, das Erröten nahm sogar noch zu, seine Ohren glühten.
    »Nee danke, ich wohne gleich da hinten«, sagte er und deutete mit
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