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Schlag weiter, Herz

Schlag weiter, Herz

Titel: Schlag weiter, Herz
Autoren: Davic Pfeifer
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zum Wettbewerb fährt. Geht ja nicht um die Olympiateilnahme.«
    Als die Hamburger Boxer die Mehrzweckhalle betraten, wurden gerade Stuhlreihen aufgestellt. Der Ring war auf ein Holzpodest gebaut, der Boden mit schwerem, blauem Leinen bezogen. Techniker verschraubten die Spannhaken der Ringseile im Hallenboden. Einer der Ringrichter lehnte sich mit dem Rücken zu allen vier Seiten in die Seile, um deren Elastizität zu prüfen. Die Halle war rechteckig, knapp unter der Decke verlief eine Borte kleiner Fenster, die Tageslicht einließen. Obwohl draußen noch Schilder hingen, die zur Einweihungsfeier einluden, wirkte die Halle abgenutzt.
    Die Umkleidekabine der Hamburger war so klein, dass nur ein Mann darin Seil springen konnte. Sie würden sich beim Aufwärmen abwechseln müssen. Die Boxer warfen ihre Taschen ab und schlugen dann in der Halle die Zeit tot. Der Nachmittag verging mit Wiegen und einer ungelenken Begrüßung der Kollegen aus der Ukraine. Merts Gegner, Piotr Androwitsch, sah aus wie ein 94 Kilo schwerer Säugling. Mert gruselte vor ihm. Androwitsch lag sogar drei Kilo über dem Limit fürs Schwergewicht, Gersch akzeptierte ihn trotzdem als Gegner. Nach dem Händeschütteln verteilten sich die Boxer in der Halle, und Mert beschwerte sich mit gedämpfter Stimme bei Gersch. »Der wiegt zehn Kilo mehr als ich. Ich brauche eine Leiter, um den zu treffen.«
    »Sie bescheißen beim Gewicht, wir bescheißen bei den Kämpfen. Auf die Art hast du dir einen Sieg wenigstens verdient«, erwiderte Gersch.
    »Beschwer dich nicht. In meiner Gewichtsklasse haben sie keinen aufgeboten. Ich bin umsonst mitgefahren«, sagte Ali, der neben ihnen zur Umkleide trottete und sich missmutig in der Halle umsah. »Wahrscheinlich haben die wegen Tschernobyl gar keine so kleinen Russen.«
    »U-kra-ine!«, wies Gersch ihn zurecht.
    Es wurde aufsteigend nach Gewichtsklassen geboxt. Nur Mert und Androwitsch würden außer der Reihe den vorletzten Kampf bestreiten. Die Hauptattraktion des Abends sollte die Begegnung im Halbschwergewicht werden, zwischen Felix Borau, dem deutschen Meister, und Vasily Lukaschinsky, dem Militärmeister der Ukraine.
    In der Halle war es zu kalt, um sich zum Schlafen in einer Ecke einzurollen, also trieb Mert sich herum und aß Schokolade, belegte Brötchen, Äpfel und Bananen, die den Boxern auf einem Tapeziertisch hergerichtet worden waren.
    Als er den Witz mit den Bananen und den Gurken zum dritten Mal gehört hatte, fragte Mert endlich nach, was es damit auf sich hätte – und zwar ausgerechnet Felix und Gersch, die auf dem Weg in die Umkleidekabine waren.
    »In der DDR hatten wir keine Bananen«, erklärte Felix. »Wegen der Planwirtschaft«, ergänzte Gersch.
    »Und deswegen hält man uns für so blöd, eine Gurke mit einer Banane zu verwechseln«, schloss Felix. Gersch nickte. »Dummer Witz«, fügte er hinzu. Mert fand den Witz eigentlich ganz gut. Aber nachdem er ihn noch zweimal hörte, bekam er Mitleid mit den Schwerinern, die ihn bestimmt schon viel öfter gehört hatten.
    Mert versuchte sich in Winkeln der Halle aufzuhalten, aus denen er Nadja beobachten konnte. Seit ihrer Ankunft saß sie regungslos in der ersten Reihe und las. Hinter ihr stellten die Ordner weiter Stühle auf, rüstige Senioren richteten auf einem Tresen Plastikbecher, Limonaden, Wurst- und Käsebrote an, die freiwillige Feuerwehr baute eine Zapfanlage auf, und erste Zuschauer sicherten sich die besten Plätze. Zwischendurch schlenderte Mert immer wieder in die Umkleidekabine. Als er dort allein war, suchte er drei Jacken nach Münzgeld ab, bis er fündig wurde und ein Fünfmarkstück an sich nahm. Danach sah er sich mit Ali die ersten Kämpfe an.
    Die Begegnung der Junioren verlief ohne große Aufmerksamkeit, die Halle füllte sich. Ab der dritten Begegnung wurde kommentiert und gerufen. Lederblousons umspannten wuchtige Körper. Die jungen Männer versuchten breiter zu stehen, als sie waren. Die älteren Männer, die Veteranen, deren Stirn- und Wangenfurchen ihrem Alter vorauseilten, gestikulierten mit faltigen Händen. Die Knöchel ihrer Fäuste waren mit Hornhaut überzogen. In den Pausen liefen Ali und Mert außen um die Bestuhlung herum. Am Stand der freiwilligen Feuerwehr wurde Bier für zwei Mark pro Becher verkauft. Mert rechnete aus, dass er sich zweieinhalb Bier leisten konnte.
    Einige Zuschauer musterten Ali und Mert wie exotische Tiere. Ali war irritiert. »Was tragen die denn für Klamotten? Sieht aus, als
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