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Schlaf süß im tiefen Grabe: Kriminalroman (German Edition)

Schlaf süß im tiefen Grabe: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Schlaf süß im tiefen Grabe: Kriminalroman (German Edition)
Autoren: Stefan Holtkötter
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Vater rief: »Und ruf uns an, sobald du da bist. Wir wollen dich nicht aus den Augen verlieren.«
    Sie schluckte jeden Kommentar herunter. »Ja«, sagte sie und zog die Tür hinter sich zu.

    Am nächsten Morgen machte sich Sanna im strömenden Regen auf den Weg zum Hauptbahnhof. Aber das grässliche Wetter störte sie nicht, im Gegenteil, sie fühlte sich großartig. Als wäre sie ein neuer Mensch, ohne Vergangenheit und ohne Verpflichtungen. Freiheit. Dass sie mit leichtem Gepäck reiste, verstärkte diesen Eindruck nur. Das Nötigste hatte sie in einer Sporttasche verstaut, und der Rest würde mit der Umzugsfirma kommen.
    In dem Zugabteil war es kühl und ruhig. Der Regen prasselte auf das Wagendach, und Regenläufer rannen an den Fenstern herab. Sie war froh, den Abschied von Vincent hinter sich gebracht zu haben. Er wollte sich unbedingt freinehmen, um sie mit dem BMW zum Bahnhof zu bringen. Aber Sanna hatte gesagt, sie fände das unnötig, ging es doch mit der S-Bahn genauso schnell. Sie wusste, es war unfair, aber sie wollte ihn nicht dabeihaben, wenn sie zu neuen Ufern aufbrechen würde. »Wir sehen uns doch nächstes Wochenende wieder«, sagte sie. »Es ist ja kein Abschied für immer.« Doch als Vincent sie in den Arm nahm und beinahe verzweifelt an sich drückte, fühlte es sich genau so an: wie ein Abschied für immer.
    Sie starrte auf die Regenläufer, und es dauerte nicht lange, da döste sie ein. Als sie aufwachte, war sie bereits in Hannover. Menschen mit Regencapes bahnten sich ihren Weg über den Bahnsteig. Andere wuchteten nasse Koffer in den Zug und schüttelten Schirme aus. Ein kalter feuchter Wind wehte durch die offene Abteiltür, dann ertönte ein Pfiff, und der Zug fuhr weiter.
    Sanna fühlte sich, als bewegte sie sich außerhalb von Zeit und Raum. Nach einer Weile tauchte jenseits des Abteilfensters ein vertrautes Bild aus ihrer Kindheit auf: die Porta Westfalica. Hoch oben auf dem bewaldeten Hügel thronte das Kaiser-Wilhelm-Denkmal mit den steinernen Bögen und der weithin sichtbaren Kuppel. Früher war es ihr wie ein verwunschenes Gemäuer aus einem Märchen vorgekommen. Jannis und sie hatten dann immer aus dem Zugfenster hinaufgesehen, ganz ängstlich, weil sie fürchteten, dort oben wäre ein grimmig dreinblickender Torwächter, der herabsteigen und sie aus dem Zug holen könnte, falls er sie der Passage nicht würdig erachtete. Sie hatten sich immer unter den Sitzen versteckt.
    Jannis. Sie erinnerte sich, wie sein Sarg mit dem Flugzeug nach Berlin gekommen war. Ihr Vater hatte den Transport organisiert, Sanna wäre dazu gar nicht in der Lage gewesen. Der Herbst war eingezogen, und am Flughafen stand sie ihren Eltern frierend im Sommerkleidchen gegenüber. In ihrer Brust war damals eine so große und dunkle Leere gewesen, dass sie kaum mehr Erinnerungen an die Tage nach Jannis’ Tod hatte. Aber an den Moment, in dem sie ihren Vater wiedersah, erinnerte sie sich genau. Da war ein Ausdruck in seinen Augen gewesen, als blickte er in einen Abgrund. »Was hast du nur getan?«, fragte er. Natürlich hatte er längst erfahren, was am Strand geschehen war. Aber was sollte Sanna schon erwidern? Sie fühlte sich so verloren, so hilflos. Da gab es doch überhaupt keine Worte. »Du hast das Leben deines Bruders in die Hände von ein paar Idioten gelegt! Sanna, du hättest den Notarzt rufen müssen! Mein Gott, das hätte dir doch klar sein müssen!« Sanna wollte sich erklären, doch es ging nicht. Vielleicht gab es ja auch gar nichts zu erklären. Sie sah zu ihrer Mutter, die etwas Abseits stand und ins Nichts starrte. Sie schaffte es nicht einmal, Sanna in die Augen zu sehen. Aber was hatte sie auch erwartet? Es gab keinen Trost für sie, natürlich nicht. Da war nur der Ausruf ihres Vaters, der selbst heute noch in ihrem Kopf nachhallte: »Was hast du nur getan?«
    Die Diagnose lautete: plötzlicher unerwarteter Tod bei Epilepsie. Ein sehr seltenes Phänomen, besonders bei einem erstmalig auftretenden Anfall. Bei der anschließenden Obduktion wurde bei Jannis ein Hirntumor gefunden, gutartig zwar, aber bereits so groß wie ein Zwanzigcentstück. Dieser Tumor war es offenbar, der die Epilepsie ausgelöst hatte. Wäre er rechtzeitig ins Krankenhaus gekommen, hätte man ihm entkrampfende Medikamente injizieren können. Das wäre keine große Sache gewesen, und Jannis würde heute vielleicht noch leben.
    Draußen wurde es ungemütlicher. Der Regen peitschte nun wild gegen die Abteilfenster. Sanna
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