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Schlachthof 5

Schlachthof 5

Titel: Schlachthof 5
Autoren: Kurt Vonnegut
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weinen.
    Alle Augenblicke — Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft — waren immer vorhanden, werden immer vorhanden sein. Die Tralfamadorianer vermögen alle verschiedenen Augenblicke ganz so zu betrachten, wie wir zum Beispiel einige Bergzüge der Rocky Mountains betrachten können. Sie können sehen, wie Augenblicke fortdauern, und jeden Augenblick beobachten, der sie interessiert. Es ist nur eben eine Illusion, die wir hier auf der Erde haben, daß ein Augenblick dem anderen folgt wie Perlen auf einer Schnur und daß, wenn ein Augenblick vorbei ist, er für immer vorbei ist.
    Wenn ein Tralfamadorianer eine Leiche sieht, ist alles, was er denkt, daß der Tote in diesem besonderen Augenblick in einem schlechten Zustand ist, aber daß die gleiche Person in vielen anderen Augenblicken ganz einfach in bester Verfassung ist. Wenn ich jetzt höre, daß jemand tot ist, zucke ich einfach die Schultern und sage, was die Tralfamadorianer über die Toten sagen, nämlich: ›So geht das.‹ «

    Und so weiter.  
    Billy arbeitete an diesem Brief in dem Hobbyraum im Kellergeschoß seines leeren Hauses. Es war der freie Tag seiner Haushälterin. In dem Hobbyraum stand eine alte Schreibmaschine. Sie war ein richtiges Ungetüm. Sie wog ebensoviel wie eine Akkumulatorbatterie. Billy fiel es schwer, sie weit zu tragen, deshalb schrieb er in dem Hobbyraum statt anderswo.
    Die Ölheizung funktionierte nicht mehr. Eine Maus hatte die Isolierung eines zum Thermostat führenden Drahtes durchgenagt. Die Temperatur im Haus war auf fünfzehn Grad gesunken, aber Billy hatte es nicht gemerkt. Er war auch nicht warm angezogen. Er war barfuß und noch in seinem Schlafanzug und im Bademantel, obschon es spät am Nachmittag war.  Seine nackten Füße waren blau und elfenbeinfarben.
    Billys Herzfalten waren jedenfalls glühende Kohlen. Was sie so heiß machte, war Billys Glaube, daß er so viele Menschen mit der Wahrheit über die Zeit trösten würde. Das Glockenspiel oben an seiner Tür hatte geläutet und geläutet. Es war seine Tochter Barbara, die herein wollte. Jetzt verschaffte sie sich mit einem Schlüssel Einlaß, er hörte ihre Schritte über seinem Kopf. Dann rief sie: »Vater? Papi, wo bist du? « Und so weiter.
     
    Billy gab ihr keine Antwort, so daß sie fast hysterisch wurde in der Erwartung, ihn als Leiche vorzufinden. Und dann warf sie einen Blick in den allerletzten Raum, in den man noch schauen konnte—nämlich in den Hobbyraum.
     
    »Warum hast du mir keine Antwort gegeben, als ich gerufen habe? « wollte Barbara wissen, während sie auf der Schwelle zu dem Hobbyraum stand. Sie hatte die Nachmittagszeitung bei sich, in der Billy seine Freunde von Tralfamadore schilderte.
    »Ich habe dich nicht gehört « , erwiderte Billy.
    Die Instrumentierung des Augenblickes war folgende: Barbara war erst einundzwanzig Jahre alt, aber sie glaubte, ihr Vater sei senil, obwohl er erst sechsundvierzig war — senil infolge seines Gehirnschadens bei dem Flugzeugunglück. Auch hielt sie sich für das Familienoberhaupt, seitdem sie sich um die Beerdigung ihrer Mutter hatte kümmern müssen und eine Haushälterin für Billy besorgt hatte und alles andere.
    Auch mußten Barbara und ihr Mann Billys Geschäftsinteressen, die beträchtlich waren, wahrnehmen, da Billy sich keinen Pfifferling mehr um das Geschäftliche zu kümmern schien. Alle diese Verantwortung in so jungen Jahren machten sie zu einem geschwätzigen Frauenzimmer. Und Billy versuchte derweilen, seine Würde zu wahren, Barbara und alle anderen zu überzeugen, daß er alles andere als senil war und sich im Gegenteil einer Berufung widmete, die weit höher war als nur das Geschäft.
    Er tat jetzt nichts Geringeres, dachte er, als irdischen Seelen Korrekturlinsen zu verschreiben. So viele dieser Seelen waren unglücklich und verloren, dachte Billy, weil sie nicht ebenso gut wie seine kleinen grünen Freunde von Tralfamadore sehen konnten.

    »Lüge mich nicht an, Vater « , sagte Barbara, »ich weiß sehr genau, daß du mich gehört hast, als ich dich rief. « Sie war ein recht hübsches Mädchen, außer daß sie Beine wie ein Konzertflügel aus der Zeit Eduards VII. hatte. Nun machte sie ihm einen Höllenkrach wegen des Briefes in der Zeitung. Sie sagte, er mache sich und seine ganze Umgebung lächerlich.
    »Vater, Vater, Vater « , sagte Barbara, »was sollen wir denn mit dir machen? Wirst du uns zwingen, dich dahin zu bringen, wo deine Mutter ist? « Billys Mutter lebte noch. Sie
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