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Schizophrenie ist scheiße, Mama!: Vom Leben mit meiner psychisch erkrankten Tochter (German Edition)

Schizophrenie ist scheiße, Mama!: Vom Leben mit meiner psychisch erkrankten Tochter (German Edition)

Titel: Schizophrenie ist scheiße, Mama!: Vom Leben mit meiner psychisch erkrankten Tochter (German Edition)
Autoren: Janine Berg-Peer
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ist verwirrt. Ich schließe sie in die Arme – allen negativen Auswirkungen symbiotischer Mutter-Kind-Beziehungen zum Trotz. Vielleicht kann eine »gesunde« Distanz zum eigenen Kind auch dann aufrechterhalten bleiben, wenn man sich bei der Begrüßung in den Arm nimmt.

    Nach vier Wochen darf ich Lena zum ersten Mal besuchen. Ich muss klingeln, um mir die Tür aufschließen zu lassen. Freundlich werde ich nicht empfangen, sondern mit argwöhnischem Blick gemustert. Was ich wolle? Meine Tochter Lena besuchen, erwidere ich höflich. Ich muss vorsichtig sein, denn falls ich mich nicht als optimale Umwelt erweise, wird mir vielleicht der Kontakt zu Lena wieder verboten.
    Lena und ich fallen uns in die Arme. Sie schluchzt. »Mama, ich will hier wieder weg. Es ist schrecklich. Ich bin so müde und mir tut alles weh. Und das Mädchen in meinem Zimmer ist schrecklich, sie schnauzt mich dauernd an. Außerdem ist das Essen total eklig. Ich werde immer dicker.« Das stimmt, Lena hat in den vier Wochen mindestens zwanzig Kilo zugenommen. Ich bin entsetzt und lasse mir alles erzählen, was sie belastet, aber sie bringt vieles durcheinander, wenn ich nachfrage. Sie springt von einem Thema zum anderen, redet mal über den scheußlichen Pfleger, dann braucht sie dringend Lipgloss oder ein Abonnement für eine Filmzeitung. Ich setze mich mit ihr in den Aufenthaltsraum, wo wir dünnen Kaffee trinken. Um uns herum sitzen apathische Jugendliche, manche dick eingemummelt in mehrere Schichten zerlöcherter und schmutziger Pullover, die Mützen tief ins Gesicht gezogen. Fast alle rauchen, viele trinken eine Tasse Kaffee nach der anderen. Andere haben Gläser mit Cola vor sich, in die sie noch Pulverkaffee hineinrühren. Überquellende Aschenbecher, schmutzige Teller, zerfledderte Zeitschriften und angefangene Spiele stehen auf dem Tisch. Dazwischen zwei extrem dünne junge Mädchen, die sich über den Rauch und die Unordnung beschweren und sich auf den abgenutzten Sesseln zu kleinen Bündeln zusammenfalten.
    Mir zieht sich der Magen zusammen. Diese Umgebung soll für Lena gut sein? Es herrscht eine ungemütliche Atmosphäre, niemand kümmert sich um die Jugendlichen. Ich versuche, mich mit einigen von ihnen zu unterhalten. »Die Mütze muss ich über die Augen ziehen«, sagt leise der 15-jährige Andreas. »Sonst kommen die Strahlen direkt durch die Augen in mein Gehirn. Die Jalousien müssen auch weiter runtergezogen werden, das hält die Strahlen ab«, flüstert er. »Aber diese blöde Nina macht sie immer wieder hoch.«
    »Du spinnst ja total mit deinen blöden Strahlen«, brüllt ihn ein dickes Mädchen in schwarzer Gruftiekluft an. »Die spinnen hier sowieso alle«, teilt sie mir lautstark mit. »Die sind hier alle verrückt. Ich nicht. Hier ist es total beschissen, und meine beschissenen Eltern haben mich bloß in die beschissene Klapse geschickt, damit sie ihre Ruhe haben. Bist du die Mutter von der da?« Sie zeigt auf Lena. Ich nicke. »Mit der muss ich im Zimmer sein, das ist total zum Kotzen«, schreit sie. »Da kann man gleich mit einer Leiche auf dem Zimmer sein, die schläft den ganzen Tag. Mit der will ich nicht weiter im Zimmer sein. Sag mal, haste mal ’ne Zigarette für mich?« Lena fängt an zu schluchzen. Zwei Jungen lachen laut. Andreas schiebt sich die Mütze noch tiefer ins Gesicht. Die anorektischen Mädchen versuchen, unsichtbar zu werden. Ich bin entsetzt über den Umgangston, greife aber um des lieben Friedens willen nach Lenas Schachtel und biete Nina eine Zigarette an. »Nein, Mama«, schreit Lena weinend, »gib der nichts, die raucht sowieso immer alle meine Zigaretten. Sie klaut auch meine Sachen, sie hat mein rotes T-Shirt …« Ein Junge beginnt schrill zu schreien. Nina springt auf und läuft auf Lena zu. »Du blöde Kuh, du machst doch immer …«
    Ich bekomme Panik, da erscheint endlich ein Mann, von dem ich später erfahre, dass er der Sozialarbeiter ist, der sich nachmittags mit den Jugendlichen beschäftigen soll. Von Beschäftigung ist hier aber nichts zu sehen.
    Die ersten Besuche in der Jugendpsychiatrie sind für mich ein Schock. Ich weiß nichts über das Leben in einer Psychiatrie, ich habe keine Erfahrungen mit psychisch gestörten Menschen, ich kenne die unterschiedlichen Ausdrucksformen noch nicht. Ich bin entsetzt über die augenscheinliche Verwahrlosung der Jugendlichen und den Mangel an Struktur in ihrem Tagesablauf ebenso wie über Andreas’ Angst vor den Strahlen in seinem Gehirn,
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