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Schischkin, Michail

Schischkin, Michail

Titel: Schischkin, Michail
Autoren: Venushaar
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noch Angst vor ihr haben?
    Was genau
in dem Traum passiert war - er hatte es sofort vergessen, nur die alte
Schulangst, sie klang nach.
    Und was
das Unangenehme an solchen Träumen ist: Man weiß nie, in welchem Reich man
aufwacht und als wer.
     
    Der
Dolmetsch hatte den Computer schon ausgeschaltet und schaltete ihn nun wieder
ein, um aufzuschreiben, wie er sich schlaflos herumgewälzt hatte und
unversehens die Erinnerung an die Exkursion aufgetaucht war, die Galina
Petrowna - von allen Galpetra genannt - mit uns nach Ostankino ins Museum für
die Kunst der Leibeigenen machte. Es war erst September, hatte jedoch schon
geschneit, Apollo von Belvedere posierte inmitten der kreisrunden Grünanlage
im Schnee. Wir warfen mit Schneebällen nach ihm. Alle wollten dorthin treffen,
wo das Feigenblatt war, keiner schaffte es, und dann brüllte die Galpetra uns
an, und wir gingen zur Führung ins Museum. Ich entsinne mich an den Hall in
den kalten, dunklen Sälen, die vielen von der Zeit gedunkelten Gemälde an den
Wänden. Die hellen, unscharfen Fenstervierecke auf dem gebohnerten Parkett
ließen an Eisschollen denken. Und wir fegten mit Riesenfilzpantoffeln über den
Schuhen wie Schlittschuhläufer umher, versuchten dem Vordermann auf die Fersen
zu treten, damit er hinfiel. Die Galpetra zischte uns an und verteilte
Kopfnüsse. Als wäre es gestern gewesen, sehe ich sie vor mir mit ihrem dunklen
Damenbärtchen über den Mundwinkeln, im lila Wollkostüm, ein gehäkeltes weißes
Mohairmützchen auf dem Kopf, Winterstiefel mit halb offenem Reißverschluss,
damit die Beine nicht so schwitzten, und über den Stiefeln die
Museumspantoffeln wie lappländische Schneeschuhe. Von den Darlegungen des
Museumsführers weiß ich noch, dass, wenn die leibeigenen Ballerinen im Theater
schlecht getanzt hatten, sie hinterher im Pferdestall bei geschürztem Rocke
gezüchtigt wurden. »Bei geschürztem Rocke« - wohl deswegen in Erinnerung
geblieben. Und wie der Donner vorgeführt wurde, entsinne ich mich: Wenn die
Handlung auf der Bühne ein Gewitter vorsah, wurden Erbsen in eine riesige
Holzröhre geschüttet. Diese Attraktion war Bestandteil der Führung; irgendwer,
den man nicht sah, kippte von oben eine Tüte Erbsen in das Rohr. Vor allem aber
weiß ich noch, dass mir während dieser Führung jemand flüsterte, unsere
Galpetra bekäme ein Kind. Die Vorstellung, unsere alterslose schnurrbärtige
Klassenlehrerin könnte schwanger sein, erschien mir damals vollkommen abwegig.
Unvorstellbar. Denn dazu hätte, so viel wusste man, passiert sein müssen, was
zwischen Mann und Frau passiert. Frau, wohlgemerkt - nicht unserer Galpetra!
Ich starrte der alten Jungfer, die in der Schule einen wütenden Kampf gegen
Lidschatten und Wimperntusche führte, auf den Bauch und konnte nichts bemerken
- die Galpetra war so dick wie immer. Ich konnte und wollte es nicht glauben,
denn unbefleckte Empfängnis kam nicht infrage, doch der Satz: »Die ganze Schule
weiß, dass sie bald in Schwangerschaftsurlaub geht!« überzeugte mich. So
standen wir und lauschten, wie die Erbsen sich in ein fernes Donnergrollen
verwandelten, in der Galpetra wuchs etwas auf unerklärliche Weise, durch das
Fenster und den fallenden Schnee konnte man den Fernsehturm Ostankino sehen,
und Apollo Belvederski schritt durch den Schnee darauf zu, ohne Spuren zu
hinterlassen.
     
    Dem
Dolmetsch ist es an diesem tungusisch trüben Morgen beschieden, als Dolmetsch
in einer Einzimmerwohnung gegenüber dem Friedhof aufzuwachen. Vielleicht sind
deswegen die Mieten hier nicht ganz so hoch. Aber das Grün dort drüben ist ganz
normales Grün. Üppig, bauschig, fiedrig. Und das Radio berichtet an diesem
Morgen überall, und nicht nur in der Nachbarwohnung, mit munterer Stimme von
den Morden und Raubüberfällen der vergangenen Nacht. Das Krematorium ist
unscheinbar, wie irgendeine Villa am Hang. Man sieht es nie qualmen, obwohl
dort natürlich - wie überall hierzulande - emsig gearbeitet wird. Das liegt an
den Filtern. Im Schornstein sind Filter eingebaut, um den Regen nicht zu
verschmutzen.
    Von der
Katze auf der Mauer schrieb ich schon.
    Die
Nachbarn bekam der Dolmetsch lange Zeit gar nicht zu Gesicht. Nur ihre Wäsche
war zu sehen. Gewaschen wird im Keller, wo mehrere Waschmaschinen stehen. Sie
sind fast immer belegt, und auf den Leinen in den Trockenräumen harren
verwaschene Socken, gestopfte Altweiberstrümpfe und Vorkriegsunterhosen ihrer
gewohnten Inhalte.
    Vorkrieg?
Von welchem Krieg ist
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