Schimmernder Dunst über CobyCounty (German Edition)
keine Ahnung, wo sie jetzt vorwiegend lebt, wahrscheinlich an einem Ort, an dem man diese Trainings ernster nimmt. Bislang ist sie jedenfalls nie zurückgekehrt, nicht mal für ein Wochenende, soweit ich weiß.
Als der Kururlauber mir gegenüber die Zeitung senkt, sehe ich zum ersten Mal sein Gesicht. Es wirkt sonnenverbrannt und gut genährt. Der Mann trägt ein fein kariertes Hemd, das unter den Armen sichtbar verschwitzt ist. Ich frage mich, ob er aus den USA kommt und ob er hier alleine auf Kur ist. Als er die New York Times langsam faltet und währenddessen vor sich auf den Lobbyboden starrt, tut er mir auf einmal leid. Ich nehme einen Schluck Eistee und dann berührt eine Hand meine Schulter: »Wim. Das ist ja eine schöne Überraschung!« Meine Mutter hat sich ihre Sonnenbrille in die Haare geschoben. Sie sagt, dass sie sich auch etwas zu trinken holt, und kommt kurz darauf mit einem Pappbecher und einer Glasflasche Pepsicola zurück. Sie stellt beides neben meinem Eistee ab. Dann geht sie auf den Gast mit der Zeitung zu und begrüßt ihn mit einem Händedruck: »Na, genießen Sie gar nicht die Sonne?« Er scheint sich über sein stark gerötetes Gesicht völlig im Klaren zu sein, er sagt: »Ich hatte schon genug Sonne heute Vormittag, wie Sie vielleicht sehen …« Meine Mutter schlägt ihm vor, die Beautyfarm zu nutzen und seine Wangen mit kühlenden Pasten eincremen zu lassen. Er dankt ihr für den Vorschlag, steht auf und grüßt mich leicht skeptisch im Gehen.
»Macht der hier eine Kur?« , frage ich meine Mutter, und meine Mutter sagt: »Nein, der macht einfach Urlaub. Er war die letzten zwei Jahre schon hier.« Sie gießt ihren Becher voll. Erst jetzt bemerke ich, dass darin Eiswürfel aufgetürmt sind.
Ich sage: »Es ist, als hätte der Frühling längst begonnen, findest du nicht?«
Meine Mutter stutzt: »Nein. Warst du mal vor der Tür? Der Wind ist noch total frisch. Ohne Anorak holt man sich da draußen eine Erkältung.« Dann fragt sie, wie es mir gehe und wie es Carla und Wesley gehe.
»Uns geht es eigentlich allen sehr gut« , sage ich.
»Das klingt jetzt aber nicht sehr begeistert.« Ich denke, dass meine Mutter mittlerweile wissen sollte, dass ich selten sehr begeistert klinge. Sie nimmt einen Schluck Cola und beobachtet mich. Durch unser Schweigen laden wir die Situation künstlich auf, und plötzlich empfinde ich es als albern, mit der eigenen Mutter in einer Hotellobby zu sitzen und aufgeladen zu schweigen. Ich will aufstehen, doch dann beginnt sie zu sprechen: »Die Zeit rauscht und wir rauschen mit«, sie bewegt sachte ihren Kopf, »das ist nichts, worüber man sich Sorgen machen muss, Wim.«
»Warum denkst du, dass ich mir Sorgen darüber mache?«
»Ich kenne dich seit deiner Geburt. Und du setzt dich eigentlich nur in die Lobby, wenn dir etwas auf dem Herzen liegt.«
Manchmal scheint meine Mutter mit ihren Phrasen wirklich identisch zu werden, dann benutzt sie abgegriffene Formulierungen auf eine Weise, als wären sie gerade erst von ihr erfunden worden. ›Du wirst altklug und bieder‹ , will ich sagen, aber ich kontrolliere mich und schweige. Denn meine Mutter ist ja eigentlich gar nicht bieder. Sie trägt den Wahnsinn einer fünfundsechzigjährigen Optimistin in sich. Und Wahnsinn ist ja das Gegenteil von Biederkeit. Also sage ich: »Ach Mutter, du bist ein bisschen wahnsinnig.« Meine Mutter lächelt darüber. Sie geht davon aus, dass solche Aussagen durch die Texte befördert werden, die ich beruflich lesen muss. Schon oft hat sie erwähnt, dass sie sich meine Lebenssituation, in der ich stets von brandneuen Manuskripten umgeben bin, als sehr anregend vorstellt. Dabei habe ich in meinem ganzen Leben noch von keinem einzigen Text wirklich profitieren können. Literatur ist etwas, das ich gut verstehe und kontrollieren kann, deshalb mag ich sie, aber nicht weil ich sie besonders interessant fände. Wenn ich das manchmal erzähle, also dass mich Literatur im engen Sinne gar nicht begeistert, dann glauben mir das die meisten Leute nicht. Und manchmal glaube ich es mir dann selbst nicht mehr so richtig.
»Wesley hat die Stadt verlassen« , sage ich unvermittelt.
»Um diese Jahreszeit?«
»Ja. Er glaubt, dass CobyCounty in Gefahr ist. Dass uns hier etwas abhandenkommt.«
»Und warum sollte es dazu kommen?«
»Ich bin nicht sicher. Vielleicht weil in letzter Zeit so viele komische Dinge passieren. Zumindest nimmt er an, dass viele komische Dinge passieren. Und seine Mutter
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