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Schiffstagebuch

Schiffstagebuch

Titel: Schiffstagebuch
Autoren: Cees Nooteboom
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Zeichnung versinnbildlicht, ist noch nicht ausgeträumt,
     irgendwo unter all diesen Eismassen hat das neue Rußland bereits seine Claims abgesteckt. Als wir zwischen unseren bewaffneten Beschützern zum Schiff
     zurückgehen, sehe ich den Kopf Lenins, der über die leeren Gebäude seiner verlassenen Siedlung hinweg zu den Eisbergen in der Ferne blickt. Kinn gereckt,
     stechender Blick, denkt dran, ich bin noch nicht weg. Vielleicht heiße ich demnächst Putin oder Gazprom oder einfach wieder Rußland, denn das, was ihr für
     Eis gehalten habt, ist vorgeschobenes Land, das sich bis weit ins Polarmeer erstreckt, und dieses Land gehört uns, mit allem Drum und
     Dran.

    An den darauffolgenden Tagen reisen wir nach Hammerfest und Kirkenes, eine alte Sehnsucht. Immer habe ich auf die endlosen Straßen, die Norwegen durchziehen, gestarrt,nie gedacht, ich würde auf diese Weise dorthin kommen. Rom ist näher an Oslo als Hammerfest, erzählt mir jemand. Hammerfest, die nördlichste Stadt der Erde, am Tag unserer Ankunft ist alles grau in grau, doch eine Flamme scheint die gesamte Bucht zu erhellen. Dies ist eine Gas- und Ölhauptstadt und eine wichtige Quelle des immensen Reichtums von Norwegen. Wir erfahren in einem Crashkurs, wie das alles funktioniert, sehen die Marmorsäule, die 1854 zur Feier der Tatsache errichtet wurde, daß der Erdumfang erstmals exakt vermessen worden war, dürfen dann hinter einer Glasscheibe Männern und Frauen zuschauen, die offensichtlich aus allen Himmelsrichtungen gekommen sind, um hier am Fließband Fische für die ganze Welt zu säubern und damit das Geld zu verdienen, mit dem sie ihre Familien in anderen Teilen der Welt ernähren.
     
    Die letzte Stadt, die wir besuchen, ist Kirkenes, wo die Straßen ihre Namen auf norwegisch und auf russisch führen. Es liegt genauso
     weit östlich wie Istanbul und ebensoweit von Oslo entfernt wie Oslo von Rom. Murmansk ist nah, russische Schiffe werden hier repariert, rostig und
     ramponiert liegen sie im vom eisigen Wind beherrschten Hafen. Später in der Bibliothek wird die Verflechtung noch deutlicher, die Hälfte des
     Bücherschatzes besteht aus russischen Büchern, die russische Bibliothekarin gibt eine Einführung, die ihr norwegischer Kollege ins Englische
     übersetzt. Vierhundert russische Frauen leben in Kirkenes, und in den immer dunklen Wintermonaten wird viel gelesen. Es gibt nur wenige Straßen, frontier würden Amerikaner dazu sagen, Grenzgebiet, Abenteuerland. Der Seemannsclub, Autos mit russischen Nummernschildern und,
     alles überragend, das hohe Denkmal, das die Norweger den sowjetischen Soldaten errichtet haben, die 1944 für die Befreiung Norwegens gekämpft hatten. Was
     nicht auf dem Denkmal steht, ist, daß die Sowjets nach getaner Tat nicht gleich wieder abzogen – einem Besucher vergleichbar, der von Herzen willkommen
     war, dann aber doch etwas zu lange blieb. Sowohl hier als auch auf Spitzbergen wurde hart gekämpft, Kirkenes erlebte mehr als dreihundert Luftangriffe,
     und bei ihrem Abzug steckten die Deutschen die Stadt so gründlich in Brand, daß nichts als verbrannte Erde zurückblieb.

    Die Karte vom
     letzten Tag ist die schönste, die ich von dieser Reise noch habe. Grense Jakobselv steht darauf. Die Karte ist fast völlig blau, aber durch dieses
     Blau verläuft eine rosa Linie aus kleinen Kreuzen: auf der einen Seite russisches Gewässer, auf der anderen norwegisches. Ein ganz kleines Stück Land ist
     auch noch darauf zu sehen, allerdings keine Orte, nur Schraffuren, die Höhen und Tiefen angeben, Zahlen in Binnengewässern, die manchmal einen Namen
     tragen, weißes Land, wildes Land. Wir fahren von Kirkenes aus dorthin, auf der Route 886. Ab Bjørnstad hat die Straße keine Nummer mehr, der Fluß neben
     uns ist die Grenze, auf unserer Seite sind die Grenzpfähle gelb, die russischen auf der anderen Seite rot und grün. Der genaue Grenzverlauf ist dort, wo
     die Fahrrinne am tiefsten ist. Sumpfig ist das Land, überall niedrige Sträucher mit orangeroten Beeren, sibirischer Schnittlauch, teigfarbene Schwämme,
     Blumen in Weiß und Karmesin, niedrigwüchsige Grünpflanzen, die aussehen wie Queller. An der Küste sind die Felsen schiefergrau, glattgeschliffen, voller
     Brüche und Kerben, die Handschrift des Meeres. Der Kalte Krieg ist Geschichte, allerdings nicht für denjenigen, der ihn miterlebt hat. Budapest ‘56,
     Berlin ‘53, Berlin ‘89, oft genug habe ich die beiden Systeme aufeinanderstoßen
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