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Schiffstagebuch

Schiffstagebuch

Titel: Schiffstagebuch
Autoren: Cees Nooteboom
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überleben die
     Amputation, und der neue Inselstaat geht seinen unsicheren Weg, die Molukker kommen in die Niederlande, die »ostindischen« Niederländer waren bereits da,
     Den Haag entwickelt sich zu einem kulinarischen Paradies, und das Niederländische wird mit neuen Wörtern bereichert, sajur lodeh , daging
rendang , nasi puti , sateh kambing , der Blick wird nostalgisch, in den verblichenen Porträts von Breton de Nijs sehen wir, auf der
     Suche nach der verlorenen Zeit, eine für immer entschwundene Epoche, einen schmalen, grazilen Susuhunan 2 am Arm eines plötzlich groß und grob wirkenden Niederländers, Hella S. Haasse schreibt Die Teebarone , Jacob Vredenbregt, ehemaliger Kriegsgefangener während der »Polizeiaktionen«, wird in das heutige Indonesien zurückkehren, sich dort als Bürger niederlassen und die Geschichte von der anderen Seite her erzählen, wie wir dort verschwanden und was danach kam, der Staatsstreich Suhartos, die Ermordung Tausender von Kommunisten, das Land driftet von uns weg, die Generation, die noch Niederländisch sprach, lebt nicht mehr, und nur ein Idiot wie ich denkt noch an diese Dinge, wenn er ein splitje (Whisky-Soda) im Hotel des Indes in Den Haag trinkt, in Bandung oder auf Bali herumspaziert oder im früheren Buitenzorg auf den weißen Zuckerbäckerpalast des tuan besar , des Generalgouverneurs, starrt. Heimweh nach kolonialen Zeiten? Nein, das nicht, eher ein literarisches Gefühl, nichts Rationales, Dinge, die mir nach der Lektüre von Die stille Kraft , De laatste generaal (Der letzte General), Der schwarze See , Het land van herkomst (Das Herkunftsland) in Erinnerunggeblieben sind, etwas von alldem spielt jetzt mit, während ich auf Bali bin mit den glänzenden Büchern von W. O. J. Nieuwenkamp und A. J. Bernet Kempers. Nieuwenkamp schilderte auf meisterliche Weise das Leben hier in den zwanziger und dreißiger Jahren, Bernet Kempers hat sich mehr als jeder andere um die Archäologie der Insel verdient gemacht. Er schrieb Monumental Bali , und an seiner Hand besuche ich hier die Tempel – pura –, es scheint, als habe er sie Stein für Stein aufgehoben und gelesen . Diese Bücher verkörpern die andere Seite des Kolonialismus, der 1906 auf Bali einen seiner dramatischsten und beschämendsten Momente erlebt hat, eine Apotheose von Unverständnis, Gewalt, Grausamkeit, Mord und Selbstmord, es sind Bücher der Liebe, dazu bestimmt, zu beschreiben, festzuhalten und zu bewahren.
    Ich lasse Bernet Kempers‘ Gelehrsamkeit durch mich hindurchfließen, lese an den Orten, die ich aufsuche, was ich wieder vergessen werde, die Sagen von Königreichen aus Zeiten, lange bevor die Niederländer kamen, von Kriegen untereinander, aus denen das Blut verschwunden ist, von moosbewachsenen Ornamenten als Merkmalen bestimmter Stile, erfahre die Bedeutungen von Fabelwesen, Göttern samt ihren in all diesen Jahrhunderten verwitterten und in Mitleidenschaft gezogenen Attributen: der komplexe, aufgeladene Hintergrund all dessen, was ich mit meinen Händen berühren kann, so daß ich es während eines klaren, erleuchteten Augenblicks auch wirklich sehe, ohne all dieses Spezialistenwissen mit mir herumschleppen zu müssen, eine Erleuchtung, die einen in die Lage versetzt, in einem früheren Augenblick irgendwo anders in der Zeit zu sein, weil man gerade jetzt an diesem Ort im Raum steht und jemanden bei sich hat, der mit seinenWorten den Eindruck vermittelt, er sei dabeigewesen, als diese Figur gemeißelt, dieser Tempel erbaut wurde. Ist es schlimm, daß ich vieles von diesem Wissen wieder vergessen werde? Nein, denn die Essenz werde ich nicht vergessen, die Erfahrung, in solchen Augenblicken findet eine Erweiterung des eigenen Seins statt, das Denken weitet sich.
    Ohne jeden Zweifel ist Bali hinter dem Müll des einundzwanzigsten Jahrhunderts, den allgegenwärtigen Bildern der großen Entzauberung noch immer eine
     von Geistern beseelte Insel. Es bedarf lediglich einer inneren Wünschelrute und der Bereitschaft, ihr zu gehorchen, sobald sie zu zittern beginnt.
    1
E. Breton de Nijs (1908-1999), Pseudonym des Schriftstellers Rob Nieuwenhuys. Eines seiner bekanntesten Werk ist der autobiographische Roman Vergeelde portretten uit een Indisch familiealbum (Verblichene Porträts aus einem ostindischen Familienalbum) (Anm. d. Ü.).
2
Susuhunan ist der Titel der Könige von Mataram und Surakarta
     (Anm. d.Ü.)
Ubud
    Alles wie beim letzten Mal. Die Hitze, die tausend Motorroller und Mopeds, das
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