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Schiffstagebuch

Schiffstagebuch

Titel: Schiffstagebuch
Autoren: Cees Nooteboom
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der Kälte ist mir vor allem die Farbe Grau in Erinnerung – und die maßlose
     Einsamkeit der Landschaft. Kaum eine Spur menschlicher Anwesenheit, ein russisches Schiff vor Anker mitten in einer Bucht, eine kleine Holzhütte an einem
     verlassenen steinigen Strand sind das einzige, was wir für Stunden sehen. Einsame Landschaften, gibt es das? Wahrscheinlich nicht, aber was soll man sonst
     von diesen grauen Steinmassen sagen, deren verwitterte graue Ausläufer ins gleichfalls graue Wasser reichen? Das Schiff folgt der Küste, durch und durch
     abwehrende Anhäufung von Stein ohne sichtbare Vegetation, Land, auf dem sich, wie es aussieht, nie Menschen bewegt haben, kahl und dann doch manchmal
     rostfarben oder ockerbraun, wo es von Moos bewachsen ist, später das gefährliche Glitzern des Nordenskjöld-Gletschers. Das Schiff will möglichst nahe
     heran, bis wir schließlich in einem wie Onyx polierten Wasser mit unzähligen geschliffenen kleinen Eisblöcken liegen. Die Biologen unter uns packt helle
     Aufregung beim Anblick der Vögel, Dreizehenmöwen, Elfenbeinmöwen, Krabbentaucher, Schneeammern und Papageientaucher, manchmal dürfen wir
     kurz durch ihre Ferngläser schauen, aber die Vögel sind schneller als unsere eingefrorenen Bewegungen, schließlich leben sie hier. Gegen Mittag haben wir
     Pyramiden erreicht und legen an einem langen Pier und einer Art hoher eiserner Eisenbahnbrücke an, über die Züge gefahren sind. Die Berge hier haben die
     Farbe von altem Leder. Plötzlich tragen ein paar Männer ein Gewehr auf dem Rücken. Wir gehen in lockeren Grüppchen über den matschigen Boden, als ich mich
     umdrehe, sehe ich, wie eine niedrige Wolke am Pier entlangsegelt, an dem unser Schiff jetzt verlassen liegt. Wir bekommen eine Stunde Zeit, und das wird
     eine Stunde, eingetaucht in komplette Vergangenheit, ein Pompeji ohne Leichen. Hier hat kein Vulkan gewütet, doch der Effekt ist der gleiche: Als ob eines
     Tages die Pest ausgebrochen wäre, so liegt alles da. Gebäude leer, Kulturpalast leer, der große, freie Platz mit dem Leninstandbild leer, das Schwimmbad
     leer. Fast als erstes springt mir ein kleines Holzgebäude mit einem Schild in kyrillischen Buchstaben ins Auge und darunter, auf dem
     Boden, die Porträts von Marx und Lenin, niemand hat sie mitgenommen. Mit einer gewissen Scheu streift man durch die Räume, Familienbilder, Arbeitspläne,
     umgefallene Schirmlampen, nicht von ungefähr muß ich an Ostdeutschland nach der Wende denken, sogar der Geruch erinnert daran. Irgendwo das furiose
     Gemälde eines Sowjetsoldaten, der mit seiner Kalaschnikow im Anschlag über die Leiche eines deutschen Soldaten springt, vor dem stahlblauen Himmel ein
     Panzer und ein Flugzeug. Eine vergilbte Zeitung, eine zugenagelte Tür, ich muß an den Titel eines Buches von Dimitri Verhulst denken, De helaasheid van
de dingen (Die Vergeblichkeit der Dinge). Durch die schmutzigen Scheiben sehe ich draußen das riesige Industriegelände des Bergwerks, rostige Kräne,
     leere Lagerhallen, Pipelines, die den fahlen Hügel hinaufklettern, sinnlos gewordene Gastanks, arbeitslose Gabelstapler, und das alles vor dem Hintergrund
     der Natur, die parat steht, ihr Gebiet zurückzuerobern. Bar,Museum , lese ich in roten Buchstaben auf zwei Schildern an einer
     gelben Backsteinmauer, doch was soll ich mir darunter vorstellen? Fast 1500 Menschen haben in dieser geschlossenen Enklave gelebt, viele Stunden mit dem
     Schiff vom einzigen anderen bewohnten Ort entfernt. Es gab sogar ein (norwegisches) Postamt, das Schild hängt noch neben einem englischsprachigen Plan: farm, canteen, hospital, office, landing ground . Was von der Inneneinrichtung übrig ist, gehört selbst schon in ein Museum, die verlassene Kantine,
     die unter dem Schutt des Verfalls begrabenen Stühle. Draußen eine Holzskulptur in Form eines kleinen Turms, obendrin Hammer und Sichel, und darüber
     wiederum stilisierte weiße und rote Flammen, so starr vor der Abraumhalde, als wären sie mit der Laubsäge ausgesägt. Vor dem Hauptgebäude steht noch ein
     großes, rundes Schild mit dem Namen der Betreiberfirma, Arktikugol. Es zeigt den oberen Teil eines eisblauen Globus und über zwei gekreuzten Hämmern die
     Zahl 79, der Breitengrad, auf dem wir uns befinden. Über dem Pol, der durch einen kleinen Kreis markiert ist, schwebt der rote Sowjetstern. Das Ganze wird
     gekrönt von einem riesigen Eisbären. Der Sowjetstern existiert nicht mehr, doch der Traum, den die
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