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Schiffstagebuch

Schiffstagebuch

Titel: Schiffstagebuch
Autoren: Cees Nooteboom
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metallenen Wasser, wenig Menschen, und all das vor dem Hintergrund der stumpfen, enthaupteten Berge auf der anderen Seite, ungeschlachte Tiere mit Schnee
     an den Flanken. Gastanks, Fabriken, Autos. Ob es durch die Stille kommt, weiß ich nicht, jedenfalls scheint es, als wäre jedes Gebäude einzeln hingemalt,
     Bilder eines hyperrealistischen Malers, der die Stille als zusätzliche Dimension hinzugefügt hat. Ein Schiff in dunkler Mennige, eine Ölpipeline, ein
     hoher Fabrikturm mit einem einzigen Licht – wenn hier ein Auto vorbeikommt, ist das ein Ereignis. Ich frage mich, wie es im Winter sein muß, wenn die
     Sonne für vier Monate verschwindet. Longyearbyen ist der einzige größere Ort, hier leben 1800 Menschen. Weiter nach Norden gibt es noch die russische
     Kohlengrube Barentsburg, die seit den jüngsten russischen Exerzitien am Pol mit einem gewissen Argwohn betrachtet wird. DieSiedlung
     liegt teilweise außerhalb der norwegischen Jurisdiktion, etwa 800 Russen wohnen hier. Ein Stück weiter nördlich kommt Ny-Ålesund mit vierzig Seelen,
     alles, was dann noch weiter im Norden liegt, ist unzugänglich und zumeist Sperrgebiet. Zwischen den einzelnen Siedlungen auf Spitzbergen gibt es keine
     Straßen, irgendwo steht noch eine automatische Wetterstation, aber dort wohnt keiner mehr, nur während des kurzen Sommers fahren Yachten an den
     unwirtlichen Küsten von Nordaustlandet und Kvitøya entlang. Im Januar und Februar können die Temperaturen in Longyearbyen auf mehr als 40 Grad unter Null
     sinken, im März ist es noch kälter – wie lebt man unter solchen Bedingungen? Es geht, lautet die Antwort, und leicht provozierend wird hinzugefügt: »Und
     wenn der Winter vorbei ist, tauschen wir alle unsere Partner.« Es ist eine lange Nacht, die Polarnacht, und ich begreife, daß keiner, der das nicht erlebt
     hat, mitreden kann. Wie mag es wohl sein, den Winter hier zu verbringen? Im November wird es um die Mittagszeit noch Tag, dann aber breitet sich die
     Dunkelheit allmählich immer mehr aus. Im Dunklen zur modernen Bibliothek gehen, beim Licht der Sterne oder (sofern er scheint) des Monds knapp oberhalb
     des Horizonts, und dort endlich alles lesen, was man schon sein ganzes Leben lang lesen wollte? Wie lange hält man das aus, wenn man freiwillig dort ist?
     Was machen die Einheimischen? Man gewöhnt sich daran, sagen sie, es gibt schließlich Bücher, DVDs und CDs, man kann an der Fernuniversität studieren, es
     gibt alle möglichen Vereine, und schließlich haben wir unseren Job – wir sterben weiß Gott nicht vor Langeweile, und wenn alles klappt, kommt jeden Tag
     das Flugzeug aus Tromsø mit den Zeitungen. Und manchmal sieht man das Polarlicht …

    Der nächste Morgen. Wir werden in einen Bus
     gesteckt. Alle sehen verkleidet aus, die Bootsfahrt nach Pyramiden und zurück wird zehn Stunden dauern, man hat uns vor eisiger Kälte auf dem Wasser
     gewarnt, Thermounterwäsche empfohlen, Mützen, Sonnenbrillen wegen des grellen Lichts bei den Gletschern, feste Schuhe, weil das Gelände, wo wir an Land
     gehen werden, teilweise unwegsam ist. Ich hatte keine Vorstellung davon, was uns erwartete, doch daß es kein ganz normaler Ausflug würde, war mir beim
     Anblick der Gewehre klar, die ich irgendwo herumstehen sah. Pyramiden mußte, wenn ich es richtig verstanden hatte, eine ehemalige russische Zeche
     sein. Aufgrund internationaler Verträge aus dem frühen 20. Jahrhundert besaß die Sowjetunion das Recht, die Rohstoffvorkommen in Pyramiden wie die im
     heute noch genutzten Barentsburg auszubeuten. Daran änderte sich auch nach dem Untergang der Sowjetunion nichts, bis 1996, fast von einem Tag auf den
     anderen, die gesamte Bevölkerung von Pyramidenwegging und die riesige Anlage dem Polarwinter überließ. Der Zweite Weltkrieg hatte
     sowohl die Deutschen als auch die Russen von der Nützlichkeit der Kohlevorkommen in diesem Teil der Erde überzeugt, und die neuen Ansprüche der Russen in
     dem Gebiet beweisen ihr unvermindertes militärisches und wirtschaftliches Interesse – schließlich könnte sich auch noch Erdöl oder Gas oder Gott weiß was
     unter all dem Eis befinden. Folglich gibt es immer wieder Diskussionen darüber, welche Seegrenze wo verläuft; entlang der gesamten Küste darf innerhalb
     einer 370 Kilometer breiten Zone jedenfalls keiner fischen, ausgenommen die Norweger selbst. Es sind also eindeutig norwegische Gewässer, die wir auf der MS Langøysund befahren. Abgesehen von
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