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Schiff der tausend Träume

Schiff der tausend Träume

Titel: Schiff der tausend Träume
Autoren: Leah Fleming
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werdet weitermachen, so wie sie es getan hätte, dessen bin ich mir sicher. Sie hat euch gut erzogen. Und du hast die Freude, in den Schoß einer dich liebenden Familie zurückzukehren, meine Liebe.«
    Er hatte recht. Sie war gut erzogen worden und wusste, dass die Pflicht gegenüber anderen vor dem Eigennutz rangierte. Daher schluckte sie ihre Tränen und schaute aus dem Fenster auf das frische Grün des Rasens. Wenn Lichfield nur zu dieser Jahreszeit nicht so wunderschön wäre … Damals hätte sie sich aussprechen, die Wahrheit sagen sollen, doch stets hatte irgendetwas sie zurückgehalten. Es war nicht der richtige Zeitpunkt, einen alten Mann mit ihren Sorgen zu belasten. Und wenn sie noch so schrecklich waren.

3
    Ihr erster Blick auf London und seine prächtigen Gebäude erfüllte May mit Ehrfurcht. Ungläubig schaute sie an Big Ben hoch und erhaschte auf der Brücke einen flüchtigen Eindruck vom Londoner Tower. Sie übernachteten in der Nähe von St. Paul’s in einer Pension, die nicht allzu sauber war. Sie musste nur das schmuddelige Gesicht der Wirtin ansehen, schon drehte May die Matratzen um und überprüfte sie auf Wanzen. Ellen kam in der fremden Umgebung nicht zur Ruhe, und sie verbrachten eine rastlose Nacht. Wenn es so weiterginge, hatte May gesagt, dann hätten sie eine höllisch lange Seereise vor sich. Am Ende wären sie Wracks. Joe hatte gelacht und sie voller Vorfreude durch den Raum gewirbelt. Sie konnte gar nicht anders, als in sein Lachen einzustimmen, seine Laune und seine Begeisterung waren einfach ansteckend.
    Früh am nächsten Morgen leisteten sie sich ein Taxi zur Waterloo Station und schickten Postkarten an Freunde in der Baumwollspinnerei, bevor sie aufbrachen. May betrachtete verwundert die Schlangen aus Bussen, Pferdekutschen und Männern mit Schubkarren. Noch nie hatte sie miterlebt, wie viel Betrieb in einer so großen Stadt im frühen Morgenlicht herrschte. Woher kamen all diese Leute?
    Allein der Gedanke, dass die nächste große Stadt New York sein würde!
    Als sie schließlich Waterloo erreichten, um den Zug zum Schiff zu nehmen, bekam May das Gefühl, noch nie so viele Menschen auf einem Haufen gesehen zu haben – Männer und Frauen mit Koffern und Taschen, kleine Kinder, die versuchten mitzuhalten. Verzweifelt klammerte sie sich an Joe und Ellen, voller Sorge, von ihnen getrennt zu werden. Rauch, Dampf, Ruß und Lärm trieben sie vor sich her in die wartenden Waggons mit Fahrtziel Southampton. Erschöpft, aufgelöst, eine unter Hunderten, empfand May plötzlich Stolz, dass Joe es wagte, mehr für seine Familie anzustreben als irgendeine kleine Nebenstraße einer Spinnereistadt.
    Doch als der Zug auf seinen Gleisen ratterte und sie immer weiter von allem entfernte, was sie je gekannt hatten, wurde ihr wieder unbehaglich zumute. Wie sollten sie sich in einem fremden Land zurechtfinden? Wie würde das Wetter sein? Ob sie überhaupt dorthin passten? Und wenn die Kleine nun krank würde? Das Risiko war enorm. Als der Zug in den Hafen von Southampton einfuhr, sah sie das graue Meer und konnte einen flüchtigen Blick auf das große Schiff werfen. Am Mast flatterte die Flagge der Reederei White Star. Es ragte hoch über den Bäumen und Häusern auf, und ihr Herz hämmerte. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Sie mussten sich der Schiffsbesatzung anvertrauen, die sie über den Ozean in ihr neues Leben bringen würde.
    Als sie an den Anleger kamen, erblickte May den großen Rumpf der
Titanic
mit den vier Schornsteinen darüber, und ein Schauder rann ihr über den Rücken, ob sie wollte oder nicht. Die Schornsteine waren cremefarben, hatten oben einen schwarzen Rand und krönten eine einhundert Fuß hohe gusseiserne Schiffswand, die wie ein stählerner Berg aufragte.
    »Wie um alles in der Welt kann das Ding schwimmen?«, krächzte sie, als sie sich in die Schlange der Einschiffenden reihten, die sich auf das C-Deck begaben. Sie war derart beeindruckt von den ungeheuren Ausmaßen des Schiffes, das in der nächsten Woche ihr Zuhause sein würde, dass sie über den Rock einer Frau vor ihr stolperte, die sich umdrehte und ihr einen wütenden Blick zuwarf.
    »Gut gelandet?«, lachte Joe, doch May fand es nicht lustig.
    »Meine Füße wollen dieses Schiff nicht betreten«, flüsterte sie.
    »Blödsinn«, erwiderte Joe, der ihre Gedanken las. »Der Herrgott selbst könnte dieses Schiff nicht versenken!«
    »Ich hoffe, du weißt, was wir tun, Joe. Wir haben so einen weiten Weg vor uns.« Sie
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