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Scherbenherz - Roman

Scherbenherz - Roman

Titel: Scherbenherz - Roman
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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Er war ein höflicher, geistreicher Gesellschafter, versuchte nie die Unterhaltung zu dominieren, sprang jedoch ungezwungen ein, wann immer das Schweigen einen Herzschlag zu lange andauerte.
    »Also, Janet, eines muss ich sagen. Das war eines der besten gebratenen Hühnchen, das ich je gegessen habe«, sagte er und legte sein Besteck auf den Teller.
    »Das sagst du immer«, witzelte Charlotte und stieß ihm liebevoll den Ellbogen in die Rippen. »Ist wie bei den Olympischen Spielen. Die Letzten sind immer die Besten.«
    Gabriel rollte mit den Augen. »Das sage ich überhaupt nicht immer.« Er hielt kurz inne. »Und wenn ich es sage, dann nur, weil ich es auch wirklich meine.«
    Alle lachten. Anne, die auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches neben Janet saß, versuchte ernst zu bleiben, was ihr nicht gelang. Ob sie wollte oder nicht, auch sie war für Gabriels Charme nicht unempfänglich.
    »Bist du eine gute Köchin, Charlotte?«, fragte Janet. »Die Jugend heutzutage kann ja praktisch alles.«
    Charlotte lächelte. Ihre Perlenohrringe schimmerten im Kerzenlicht. Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die sich gelöst hatte. »Ich fühle mich geschmeichelt, dass du mich noch zur Jugend zählst.«
    »So ein Unsinn, Charlotte«, warf Anne ein. »Du bist gerade mal dreißig.«
    »Im Vergleich mit dem Rest von uns bist du noch ein Baby«, erklärte Gabriel.
    »Also, das müssen Sie gerade sagen«, entgegnete Anne in leicht kokettem Ton, den Janet noch nie von ihr gehört hatte. Anne schien sich ganz offensichtlich gut zu amüsieren.
    »Ich schätze, ich kann ganz gut kochen«, antwortete Charlotte und drehte den Stiel ihres Weinglases in der Hand. Das Kristallglas reflektierte den Schein der Kerzen und warf einen Lichtkegel auf die Tischdecke. Charlotte fuhr mit dem Finger über die Tischdecke und hielt inne, bevor sie das helle Zentrum des Lichtkegels erreicht hatte, so als habe sie Angst, sich zu verbrennen.
    »Du bist eine großartige Köchin«, versicherte ihr Gabriel. »Allerdings … erinnere ich mich dunkel, dass du mal einen Wolfsbarsch im Ganzen gebraten hast, ohne ihn vorher auszunehmen.«
    »Ja, kommt mir bekannt vor. Danke, dass du mich daran erinnert hast.«
    »Dabei war das eigentlich sehr ökonomisch gedacht«, fuhr Gabriel an Anne gewandt fort. »In den Zeiten der Finanzkrise sind wir alle gefordert. Ein paar Fische könnten samt ihren Innereien eine vierköpfige Familie eine Woche ernähren.«
    Anne kicherte. Janet warf ihr einen erstaunten Blick zu. So hatte sie Anne tatsächlich noch nicht erlebt. Sie sah in die Runde, um zu fragen, wem sie eine zweite Portion Hühnchen auflegen könne, und fing Charlottes Blick auf. Die zwinkerte ihr zu. Janet lächelte, und angesichts dieser vertraulichen Geste wurde ihr warm ums Herz. Zum ersten Mal seit einer halben Ewigkeit fühlte sie sich dazugehörig. Fühlte sich als Teil eines Ganzen. Sie wünschte, dieser Abend würde nie enden.
    Charlotte beugte sich über den Tisch, um Janets Glas nachzufüllen. Dabei strich sie leicht mit ihren Fingern über Janets Hand, und als Janet aufsah, fing sie Charlottes Lächeln auf, deren Lippen nach einem Augenblick die Worte »danke schön« formten.
    Alle boten ihre Hilfe an, den Tisch abzuräumen, doch Janet wehrte entschieden ab. Es gab für sie nichts Schlimmeres, als bei Freunden zum Essen eingeladen zu sein und anschließend zu endlosen Aufräumarbeiten eingespannt zu werden – sich in einer fremden Küche zurechtfinden und mit den anderen um die Tüchtigkeitsmedaille des Abends wetteifern zu müssen.
    »Ganz ehrlich, bemüht euch nicht«, sagte sie daher, als Gabriel begann, die Teller zusammenzustellen und die Knochen- und Essensreste zu entsorgen. »Sowieso kennt ihr euch in meiner Küche nicht aus.« Gabriel sah sie zweifelnd an. »Im Endeffekt habe ich nur noch mehr Arbeit«, beharrte sie.
    »Okay. Dann sagen Sie mir wenigstens, wo ich Tee und Kaffee und Geschirr finde. Dann mache ich mich auf diese Weise nützlich.« Er hob seinen Stapel Teller hoch. »Und weil ich dazu in die Küche muss, kann ich die gleich mitnehmen. Aber keine Sorge. Ich rühre sonst keinen Finger.«
    Janet lächelte und folgte Charlotte und Anne ins Wohnzimmer. Die abendlichen Temperaturen waren merklich abgekühlt. Janet machte sich am Kamin zu schaffen, schichtete Holz auf und stopfte Zeitungspapier in die Zwischenräume, wie Nigel es sie gelehrt hatte. Das Feuer brannte sofort an, die Flammen erfassten das Papier und
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