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Schatz, schmeckts dir nicht

Schatz, schmeckts dir nicht

Titel: Schatz, schmeckts dir nicht
Autoren: Ella Danz
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›Wahlverwandtschaften‹.
    Über die Beschäftigung mit Goethes Ernährungsgewohnheiten und speziellen Vorlieben lernte sie einen Genussmenschen ersten Grades kennen. Hier hatte kein hungernder Künstler geistige Höhenflüge in mehr oder minder freiwilliger Askese vollführt, im Gegenteil. Sein leibliches Wohl lag dem Herrn von der Studentenzeit bis zum Greisenalter sehr am Herzen. Niemals diente Essen und Trinken der reinen Sättigung, es sollte immer auch eine Quelle des Genusses und der Lebensfreude sein. Um richtig gut zu dichten, forderte er wahre Fresskörbe von seiner Lebensgefährtin an, die sie ihm in seinen Arbeitsort Jena zu senden hatte. Zum Frühstück schon durfte es gerne geräucherte Zunge, Kotelett, kaltes Beefsteak sein. Kein Umstand war dem viel gepriesenen Genius zu groß, um an ausgesuchte Köstlichkeiten zu gelangen: Seefische, Weine, exotische Früchte, besonderes Konfekt – er war selbst darum besorgt, all die Gaumenfreuden, die in Weimar nicht zu beschaffen waren, sich von weither liefern zu lassen, und Freunde und Verehrerinnen wussten genau, dass sie ihm mit einem Korb kulinarischer Spezialitäten die größte Freude machen konnten.
     
    Helene räkelte sich unter ihrem Sonnensegel und seufzte wohlig. Was für ein überaus sympathischer Mensch, dieser Herr Goethe! Hin und wieder hatten sie in den letzten Monaten leise Zweifel beschlichen ob der Andacht, die sie beim Verspeisen einer kulinarischen Köstlichkeit empfand. Ja, ihre Obsession bei allem, was mit Kochen und Essen zusammenhing, hatte in den Augen gewisser Leute einen so vulgären Beigeschmack bekommen. Genussmenschen schienen auf der untersten Stufe der menschlichen Bewusstseinsentwicklung zu stehen, mit ihrer triebhaften Beziehung zur Nahrungsaufnahme und allem, was damit zusammenhing. Da war es doch beruhigend zu wissen, dass sie sich in bester Gesellschaft befand.
    Ein heftiger Windstoß wehte plötzlich ihre Notizzettel vom Tisch, und auch als sie über den Rand ihrer Sonnenbrille spähte, wurde der Himmel kaum heller. Sie sammelte alles wieder ein und beschloss, nach drinnen umzuziehen, denn eine graugrüne Wolkenwand schob sich heran, die nichts Gutes verhieß. Der Wind nahm an Heftigkeit zu, und die Kastanie im Hof schien bei jeder Bö in die Knie zu gehen, so mächtig bogen sich ihre Zweige. Ein kräftiger Luftzug fegte durch die Wohnung und schmiss die Terrassentür zu, und Helene beeilte sich, sämtliche Fenster zu schließen. Gerade hatte sie es sich mit ihren Büchern und Ausdrucken vor dem großen Panoramafenster bequem gemacht, als es klingelte.
     
    Ein gut aussehender, junger Mann in Jeans und hellblauem Polohemd stand vor der Tür und grüßte höflich. Irgendetwas an ihm kam Helene bekannt vor.
    »Sind Sie ein Freund unseres Sohnes? Hab ich Sie nicht irgendwann mal in seiner Schule gesehen?«
    Er schüttelte verneinend den Kopf, und dann fiel es ihr ein. Die Augen waren es. Der junge Mann hatte denselben meerblauen Blick, der sie in Dianes Häuschen so verunsichert hatte.
    »Mein Name ist Vincent Gehring. Ich bin der Sohn eines Freundes von Diane. Bitte entschuldigen Sie mein unangemeldetes Auftauchen, aber ich hatte Ihre Telefonnummer nicht.«
    »Sie haben die gleichen Augen wie Ihr Vater Felix, nicht wahr?«
    »Es muss wohl stimmen, denn das höre ich oft.« Er zeigte ein sympathisches Lächeln. Helene, die plötzlich ein leises Unbehagen verspürte, blieb nichts übrig, als den überraschenden Besuch hereinzubitten. Sie führte ihn zur Couch vor dem Panoramafenster und bat ihn, Platz zu nehmen.
    »Wissen Sie, ich liebe Gewitter, und ich glaube, gleich geht’s richtig los! Und hier sitzt man sozusagen in der ersten Reihe beim Schauspiel der Naturgewalten. Bitte, nehmen Sie doch Platz. Ich hatte eigentlich erst im Herbst mit einem Besuch Ihres Vaters gerechnet.«
    Vincent, der in den Staaten aufgewachsen war, erzählte in einwandfreiem Deutsch, jedoch mit einem unsäglichen amerikanischen Akzent, dass er sich gerade auf einer längeren Europareise befinde. Bei seinem letzten Telefonat mit seinem Vater hatte der ihn gebeten, doch mal bei Jan und Helene vorbeizuschauen, die sich wohl unnötig Sorgen um den Verbleib von Diane machten. Bei den Entfernungen in Europa lag die Stadt für ihn sozusagen am Weg, und da war er nun.
    »Das ist wirklich nett von Ihnen! Mein Mann ist es vor allem, der sich Gedanken macht. Er und Diane sind Kollegen, das heißt, sie arbeitete mit ihm an seinem aktuellen ökologischen
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