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Schattenpferd

Titel: Schattenpferd
Autoren: Tami Hoag
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Ganz egal, dass es mein eigener Fehler gewesen war oder dass meine Verletzungen unbedeutend waren im Vergleich zu dem, was mit Hector Ramirez passiert war.) Was zum Teufel wusste er denn nach all dieser Zeit noch nicht über die Situation? Warum glaubte er, dass er mich brauchte?
    Warum würde irgendjemand glauben, dass er mich brauchte?
    Ich ging ins Schlafzimmer, setzte mich aufs Bett und öffnete die Nachttischschublade. Langsam nahm ich das braune Plastikfläschchen mit Vicodin heraus, schüttete die Tabletten auf den Nachttisch, starrte sie an, zählte sie eine nach der anderen, berührte jede Tablette. Wie erbärmlich, dass ein Ritual wie dieses mich besänftigte, dass die Vorstellung einer Überdosis – oder der Gedanke, sie an diesem Abend nicht zu nehmen – mich beruhigte.
    Großer Gott, welcher vernünftig denkende Mensch würde denn glauben, dass er mich brauchte?
    Angewidert von mir, tat ich die Tabletten wieder in das Fläschchen und legte es zurück in die Schublade. Ich verabscheute mich dafür, nicht das zu sein, was ich immer von mir geglaubt hatte: stark. Aber ich hatte lange Zeit Verwöhnung mit Stärke verwechselt, Trotz mit Unabhängigkeit, Leichtsinn mit Mut.
    Das Leben ist ganz schön beschissen, wenn man mit über dreißig feststellt, dass alles, was man an sich selbst für wahrhaft und bewundernswert gehalten hat, nur eine eigennützige Lüge war.
    Ich hatte mich in eine Ecke manövriert und wusste nicht, wie ich da wieder rauskommen sollte. Ich wusste nicht, wie ich mich neu erfinden sollte. Ich glaubte nicht, dass ich die Kraft oder den Willen dazu hatte. Sich im eigenen Fegefeuer zu verstecken, erforderte keine Kraft.
    Endlich erkannte ich, wie erbärmlich das war. Und ich hatte viele Nächte in den letzten beiden Jahren damit verbracht, mir zu überlegen, ob tot zu sein nicht der Erbärmlichkeit vorzuziehen war. Bisher hatte ich entschieden, dass die Antwort Nein lautete. Am Leben zu sein, bot wenigstens die Möglichkeit zur Verbesserung.
    Dachte Erin Seabright irgendwo da draußen dasselbe? Oder war es bereits zu spät? Oder befand sie sich in einer Lage, in der der Tod vorzuziehen wäre, aber keine Option war?
    Ich war lange Polizistin gewesen. Am Anfang hatte ich in West Palm Beach in einem Streifenwagen Dienst getan, war durch Viertel patrouilliert, in denen das häufigste Berufsziel Verbrecher war und man am helllichten Tag Drogen auf der Straße kaufen konnte. Dann war ich eine Zeit lang bei der Sitte, hatte das Geschäft der Prostitution und Pornografie hautnah erlebt. Danach hatte ich viele Jahre im Drogendezernat des Sheriffbüros gearbeitet.
    Mein Kopf war voll mit Bildern der grässlichen Konsequenzen, eine junge Frau am falschen Ort zur falschen Zeit zu sein. Südflorida bot viele Möglichkeiten, Leichen loszuwerden oder scheußliche Geheimnisse zu verbergen. Wellington war eine Oase der Zivilisation, aber das Land hinter den eingezäunten Wohnanlagen war eher ein Land, das die Zeit vergessen hatte. Sümpfe und Wald. Offenes, feindseliges Brachland und Zuckerrohrfelder. Feldwege und Rednecks und Ecstasy-Labors in alten aufgebockten Wohnwagen, die man schon vor zwanzig Jahren den Ratten hätte überlassen sollen. Kanäle und Abzuggräben voll mit dreckigem schwarzen Wasser und Alligatoren, die sich auf alles Fleischige stürzten.
    War Erin Seabright irgendwo da draußen und wartete darauf, dass jemand sie rettete? Wartete sie auf mich? Dann mochte Gott ihr helfen. Ich wollte nicht dort hin.
    Ich ging ins Badezimmer, wusch mir die Hände und spritzte mir Wasser ins Gesicht. Versuchte, das Gefühl der Verpflichtung wegzuspülen. Ich spürte das Wasser nur an meiner rechten Gesichtshälfte. Die Nerven auf der linken Seite waren beschädigt, erlaubten mir nur noch beschränkte Empfindungs- und Bewegungsfähigkeit. Die Ärzte für plastische Chirurgie hatten mir einen annehmbaren neutralen Ausdruck verliehen und ihre Arbeit so gut gemacht, dass niemand vermutete, mir könnte etwas anderes als ein Mangel an Emotionen fehlen.
    Der ruhige, leere Ausdruck starrte mich aus dem Spiegel an. Eine weitere Erinnerung daran, dass nichts an mir vollständig oder normal war. Und ich sollte Erin Seabrights Retterin sein?
    Mit den Handballen schlug ich auf den Spiegel ein, einmal, dann noch mal und noch mal, wünschte mir, mein Spiegelbild würde vor meinen Augen genau so zersplittern, wie es in mir vor zwei Jahren zersplittert war. Ein anderer Teil von mir wünschte sich den scharfen,
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