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Schattenkinder - im Zentrum der Macht

Schattenkinder - im Zentrum der Macht

Titel: Schattenkinder - im Zentrum der Macht
Autoren: Margaret Peterson Haddix
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die er förmlich aufsaugte. Außerdem hatte er dreiPlastikbecher mit Erdbeerjoghurt ergattert. Mit den Fingern konnte er den Joghurt schlecht essen, deshalb ließ sich Trey den Inhalt großenteils in den Mund laufen und leckte die Becher anschließend aus, so gut es ging.
    Wie ein Tier
, dachte er.
Ich benehme mich wie ein Tier
.
    Er erinnerte sich an die Ansichten seines Vaters über Tiere. Vor vielen Jahren hatte er Trey und seiner Mutter eines Abends erzählt, dass er auf dem Heimweg von der Arbeit in einer Gasse wild lebenden Katzen begegnet sei, »solitären Streunern«. Obwohl Trey damals noch recht klein gewesen war, konnte er bereits Latein.
    »Solitär?«, hatte er gefragt. »Kommt das von
solitus
, also ›gewöhnlich‹, oder von
solus
für ›einsam oder vereinzelt‹?«
    Der Vater hatte Trey zärtlich das Haar zerzaust. Wenn Trey seine Lateinkenntnisse demonstrierte, wurde sein Vater immer zärtlich.
    »Sehr gut, mein Kleiner!«, hatte er gesagt. »Das Wort kann in beiderlei Wortsinn gebraucht werden. Aber in diesem Fall bedeutet es Tiere, die ›allein umherschweifen‹. Früher einmal waren diese Katzen die Haustiere von irgendjemandem, aber jetzt leben sie wild und allein.«
    Das faszinierte Trey. Den ganzen Abend lief er seinem Vater hinterher und löcherte ihn mit Fragen.
    »Wie können die Katzen denn allein leben?«, erkundigte er sich, während der Vater seinen guten Mantel auszog – den mit nur einem einzigen Flicken auf dem Ärmel. »Wer füttert sie? Wer gibt ihnen Bücher zu lesen?« In Treys damaliger Welt waren Bücher ebenso wichtig wie Essen. Und nur von den Büchern gab es reichlich.
    »Tiere lesen keine Bücher«, erklärte der Vater. »Sie sind nicht wie Menschen. Für Tiere steht das Überleben im Mittelpunkt ihres Daseins – sie fressen und . . . und vermehren sich. Was uns Menschen von den Tieren unterscheidet, ist – unsere Fähigkeit zu logischem und vernunftgesteuertem Denken. Dass wir nach mehr streben als nur zu überleben.«
    Dann hatte der Vater einen bedeutungsvollen Blick mit der Mutter gewechselt. Und genau aus diesem Grund war Trey die ganze Unterhaltung im Gedächtnis geblieben. Er hatte diesen Blick nicht verstanden.
    Als er jetzt daran zurückdachte, empfand er Scham. Wie sehr würde sein Vater sich schämen, wenn er Trey jetzt sehen könnte. Er dachte weder logisch noch vernunftgesteuert, er versuchte einfach nur zu überleben.
    Aber Dad, du hast mir nie eine Antwort darauf gegeben, wer sich um diese Katzen kümmert
, dachte er vorwurfsvoll.
    Trey zerdrückte die drei Joghurtbecher und stopfte sie in den Pappkarton, in dem der Reis und das Gemüse gewesen waren. Mutig kroch er zu einem Abfalleimer hinüber und warf den Müll hinein. Dann hastete er zurück in seinen Schrank und zog die Tür hinter sich zu.
    Okay, ich kann wieder denken. Was soll ich jetzt nur tun?
    Er fühlte sich hin- und hergerissen.
    »Bleib, wo du bist«, hatte der uniformierte Junge auf der Veranda zu ihm gesagt. Warum? Warum hatte ihn der Junge nicht gemeldet? Konnte Trey seinem Rat vertrauen?
    »Ich werde alles versuchen, um Ihnen zu helfen«, hatte Trey Mrs Talbot versprochen. War dieses Versprechen durch ihr Verschwinden nun hinfällig geworden?
    »Ich werde Mr Talbot alles erzählen«, hatte Trey Lee versprochen. Aber inzwischen konnte er sich nicht einmal mehr daran erinnern, wo die Papiere von Mr Grants Schreibtisch abgeblieben waren, die er Mr Talbot hatte zeigen wollen.
    »Ich werde auf Lee aufpassen«, hatte Trey Mr Hendricks versprochen, bevor er gestern zur Party der Grants aufgebrochen war – war es wirklich erst gestern gewesen? Er hatte das Gefühl, es sei hundert Jahre her.
    Mr Hendricks. Natürlich.
Warum hatte Trey nicht eher an ihn gedacht?
    Mr Hendricks war der Direktor von Treys Schule. Er hatte als junger Mann einen schrecklichen Unfall gehabt und beide Unterschenkel verloren. Seitdem saß er im Rollstuhl. Als Trey und seine Freunde in der vergangenen Nacht Zeugen eines Mordes geworden waren, hatten sie in ihrer Angst vor dem bulligen Killer nicht einen Moment daran gedacht, bei einem behinderten Mann Hilfe zu suchen.
    Tut mir ehrlich Leid
, dachte Trey, als könne Mr Hendricks seine Gedanken hören.
Dabei sind Sie viel zuverlässiger als Mr Talbot. Und klüger
.
    Alles, was Trey brauchte, war ein Telefon. Er würde aufpassen müssen, was er sagte – die Bevölkerungspolizei zapfte die Telefonleitungen an   –, aber er konnte seine Worte verschlüsseln. Und dann
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