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Schattengold

Schattengold

Titel: Schattengold
Autoren: Dieter Buehrig
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Troubadourmusik auf. Aina erkannte einige und grüßte freundlich.
    An jedem Stand herrschte Hochbetrieb. Nur einem Ausstellerwagen, gefüllt mit frischem Gemüse, gelang es nicht, Kunden anzulocken. Der gute Mann hatte sich wohl im Markttag geirrt.
    Es duftete nach gebrannten Mandeln, Punsch und Bratwurst. Ein Meer von kleinen, gebündelten Scheinwerfern, elektrischen Kerzen und lodernden Holzscheiten tauchte das geduldige Treiben in ein märchenhaftes Wechselspiel von Licht und Schatten.
    Von der Marienkirche tönten die schweren Glocken herab und trugen zur Vorfreude in den Gemütern der Menschen bei.
    Trotz des fast beängstigenden Drängelns herrschte Friede.
    An Abenden wie diesem spürte Aina zwei Herzen in ihrer Brust schlagen. Einerseits sehnte sie sich nach der fremden Welt, von der ihre Adoptiveltern sprachen. Andererseits liebte sie die Stadt, so wie sie sich ihr in dieser Jahreszeit präsentierte, und sie war glücklich, dass man ihr das alles ermöglicht hatte.
    Als die junge Sängerin pünktlich vor dem auffälligen, barocken Sandsteinportal mit der Messingtafel ›Adrian Ampoinimera, Goldschmied und Uhrmacher‹ ankam, stand die Hausherrin bereits im Eingang. Sie trug ein elegantes, schlichtes, hochgeschlossenes Kleid, das ihr südländisches Aussehen vorteilhaft unterstrich.
    »Heute sind wir allein. Mein Mann muss zusammen mit dem Gesellen in der Oberstadt noch ein paar Uhren richten. Das kann bis in die späte Nacht dauern. Radamo ist unterwegs, und der Zofe habe ich freigegeben. Die kann uns ohnehin nicht viel dienen.«
    Rana Ampoinimera fasste Aina unter den Arm und führte sie die Treppe zum Musikzimmer hinauf. »Ich hoffe, du hast nichts dagegen.«
    Aina empfand den Körperkontakt als angenehm. Die mütterliche Zuneigung der eleganten Dame beruhigte sie.
    Das Musikzimmer schwamm in einem Meer von Kerzen. Durch die Spiegelwände und den blanken Flügel verstärkten sich die Lichteffekte. Es duftete süß und schwer nach unbekannten Kräutern. Auf dem kleinen persischen Rundtisch standen eine Flasche Litschi-Aperitif sowie zwei Kristallgläser. Rana schenkte ein. Man nippte hin und wieder und sprach ein wenig über die Lieder, die Texte, den Komponisten und die musikalische Atmosphäre in den Werken.
    Während sie in dem Notenalbum blätterten, legte Rana ihren Arm um Ainas Schulter. Aina spürte den betäubenden Duft eines exotischen Parfums.
    »Lass uns einfach etwas ausprobieren!«
    Die Pianistin setzte sich an ihr Instrument und stimmte das eine oder andere Lied an.
    Anfangs brachen sie nach wenigen Takten ab, aber bald entwickelte sich das Ganze zu einem ausgewachsenen Liederabend. Lied folgte auf Lied, jedes klang schöner als das vorige: ›Begegnung‹, ›Verschwiegene Liebe‹, ›Nachtzauber‹, ›Mignon‹.
    Die Hausherrin entpuppte sich als eine einfühlsame Begleiterin. Hatte sie in den früheren Konzerten stets die musikalische Führung übernommen, ließ sie jetzt – das spürte Aina ganz deutlich – die junge Sängerin dominieren.
    Besonders das letzte Lied gelang Aina überaus gut. Ihre Begleiterin bemerkte, dass die junge Sängerin inzwischen gelernt hatte, die Phrasierungen musikalisch klug einzuteilen. Die Intonation war ohne Makel, die dynamischen Schattierungen beherrschte sie bis ins kleinste Detail.

     
    »Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn? …
    Dahin möchte ich mit dir ziehn.«

     
    Ainas Seele schwamm in der Musik. Die Sehnsucht nach der Ferne offenbarte sich im Klang ihrer Stimme. Trotz der starken Emotionalität, die sie in den Gesang legte, strahlte das Lied echte, lebendige Natürlichkeit aus. Ihr war, als ob sie singend bangen, weinen, hoffen, zittern oder träumen würde.
    Nein – sie sang nicht, sie lebte das Lied. Das feuerrot auf ihrer Stirn leuchtende Bindi schien ihr den richtigen Weg zu weisen.
    Rana spürte in ihrem Innern gleichzeitig eine stechende Eifersucht und eine bis dahin unbekannte, fremde Liebe. Kein Computerprogramm kann Derartiges zuwege bringen, dachte sie. Wie naiv und eitel war ich doch, zu meinen, mit künstlicher Intelligenz könne man unbegrenzte Musikalität erschaffen! – Gegenüber dieser Kunst ist die meines Radamo ein elender Abklatsch. Was wahre Musik ausmacht, ist nicht höchste Perfektion. Es ist die Natürlichkeit, das im besten Sinne Naive, das nur möglich wird, wenn man alle Grenzen der Technik weit hinter sich gelassen hat. Künstlichkeit ist vergänglich, und sei sie noch so perfekt. Nur die wahrhafte Kunst
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